“Sie haben ein Haus hier?” Das hat die aus einem tristen belgischen Bergarbeiterort angereiste Christine (Christelle Cornil). Weder sie noch ihre Familie wussten vor dem Tod der Großmutter von dem maroden Haus auf Korsika, dessen eigenwilliges Temperament der nicht mehr jungen Erbin seltsam vertraut scheint. “Bis in die 60er Jahre gab es kein fließendes Wasser“, berichtet ihr der Ziegenhirt Pascal (Francois Vincentelli), dessen rauer Charme Christine noch mehr auf die Berghänge zieht, wo sie nichts hält außer der Hütte. Unter deren Dach fühlt die entschlossene Protagonistin von Pierre Ducculots sprödem Charakterstück sich nach jeder kalten Nacht wärmer, geborgener.
“Palma?“, fragt die greise Anwohnerin Flora (Marcelle Steffanelli): “Oh ja, was für eine Geschichte!” Pierre Duculot enthüllt sie nicht in seinem Langfilmdebüt, weil es darin eine andere zu erzählen gilt – und zwar die von Christine, deren Aufbruch Abschluss eines alten und Beginn eines neuen Kapitels ist. Von jenen beiden Kapiteln liegt nur das zweite in ihrem eigenen Leben. Es ist das allererste darin, während das andere noch zur Biografie ihrer Großmutter gehört. Jener Palma, deren Herkunft ihre Enkelin unabsichtlich aufdeckt und mit ihr eine versteckte Seite ihrer selbst. Die ethische und kulturelle Ebene dieser Identifikation ist dabei nur eine Vorstufe zur psychologischen. Im unbehüteten und autarken Wesen Palmas und deren abruptem Fortgehen aus dem vertrauten Umfeld erblickt Christine eine Kartografie ihres eigenen Lebenswegs, der sie ans Ende der Welt (ein Verweis auf den französischen Originaltitel Au cul du loup) führen wird.
Die verwirrenden und verworrenen Abzweigungen der beiden miteinander verwobenen Lebenswege breiten sich vor ihr gleich der Landschaft aus. Zuerst nimmt die von der Alltagstortur abgestumpfte Lohnarbeiterin sie als vom eigenen Ich separiert war. Eine Hypothese, die aus sicherer Distanz betrachtet doch nie erfahren werden kann, so erscheint ihr zu Beginn die Natur und der Ausbruch aus dem existentiellen Leerlauf, in dem ihr familiäres Umfeld sich festgefahren hat, gleicht einer aberwitzigen Theorie. Als solche verwerfen ihr Vater (Roberto D´Orazio) und ihr Lebenspartner Marco (Jean-Jaques Rausin) bereits die Idee, das Haus zu besichtigen. Was sie nahezu empört, ist nicht der Inhalt von Christines Plänen, sondern, dass sie überhaupt welche schmiedet. Ihre eigenen Zukunftspläne haben sie längst begraben. Christines Wagnis stehen sie nicht zuletzt deshalb ablehnend gegenüber, weil es in ihnen Erinnerungen an die eigenen nie realisierten Lebensentwürfe weckt. Dem trüben Fatalismus ihres Umfelds entflieht Christine mit einem Ruck, dessen Heftigkeit ihr an ihr selbst fremd ist.
Das hartnäckige Verweilen in der Berghütte rührt auch von einem Gefühl der Nichtzugehörigkeit, das sie zuhause insgeheim verspürt. Dort wollen Partner und Verwandte Christine erst halten, dann sie dorthin zurückholen, ohne zu begreifen, dass sie sich ein der Bezeichnung würdiges Zuhause erst schaffen muss. Sinnbild der Symbiose von Ablösung und Festigung sind der Hausbau und das damit verbundene taktile Naturerlebnis. Die Natur betrachte man wie in einem Museum, erklärt der Regisseur Duculot: “Nur wenige Leute verspüren noch das Bedürfnis, darin einzutauchen.” Seine Protagonistin ist eine dieser wenigen, für deren Annäherung der Regisseur und Autor eine ebenso schlichte wie griffige Bildsprache findet. Sie wendet sich an den Betrachter mit spröden Reliefszenen, die statt das Erhabene zu bemühen geduldig warten, bis es sich von allein zu erkennen gibt. Erst zögerlich entblößt das bergige Panorama seine reizvolle Seite, als harre es einem Moment, in dem es sich unbeobachtet wähnt. Nicht anders verhält sich Christine, deren Silhouette bei der Katzenwäsche im Kerzenschein auf einmal anziehend wirkt.
Schönheit liegt in dem verhaltenen Ensemblespiel nicht im Auge des Betrachters, sondern in einer bestimmten Perspektive. Der mal ungastlich, mal einladend erscheinende Bergort, seine erst ungeschlacht, dann wieder einnehmend wirkenden Bewohner und das Klima, das sommerliche Tage in eisige Nächten umschlagen lässt, behaupten ihre Dualität gegen jeden Zuordnungsversuch in pauschale Konzepte von Idyll und Einöde, ob von Seiten der Hauptfigur oder der Kinozuschauer.
- Beitragsbild © Schwarz-Weiss Filmverleih