Lange kannte Chris Kraus selbst Oda Schäfer nicht. In seinem Kinoepos Poll erzählt der Regisseur aus dem Leben der Dichterin, die auch seine Verwandte wart. Im Interview spricht er über künstlerische und persönliche Bindungen in Poll.
Wie bist Du nach Deinem Gefängnisdrama „Vier Minuten“ zu der epischen Thematik von „Poll“ gekommen?
Das Sujet ist unterschwellig gar nicht so anders. Bei Vier Minuten war der Ausgangspunkt meine Internatsleiterin gewesen, die Traude Krüger, hier eine Großtante, die Oda Schäfer, die den Anlass gab, den Film zu machen.
Wie hat die Familienverbindung Deine Arbeit beeinflusst?
Die Distanz ist naturgemäß größer zu Menschen, die man nicht kennt, als zu Menschen, die man zu kennen vermeint. Ich kannte Oda Schäfer nicht persönlich, aber durch Familienerzählungen. Durch die Blutsbande gibt es eine Sehnsucht nach Nähe. Das macht es schwieriger, sich einen persönlichen Stoff fremd zu schaffen. Trotzdem hat man, das ist das Schöne, danach einen starken Antrieb, diesen Film zu machen und durch die Widrigkeiten einer Vorproduktionen zu gehen.
Was hat Dich zu der Auswahl des Lebenszeitpunkts Oda Schäfers bewegt?
Im Leben von Oda Schäfer sammelt sich der gesamte Schmerz und die Dramatik des 20. Jahrhunderts. In ihrem Aufenthalt in Poll findet sich alles, was sie ausmacht: die Einsamkeit, die Ausgrenzung durch andere, die Abgrenzung durch ihre eigene Entscheidung von der Gesellschaft, der romantische Impuls, die Dramatik der Zeitläufe, die über sie hinweg stürzt, durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, und die zerstörte Familie.
Heute ist Oda eine nahezu unbekannte Künstlerin…
Sie gehört zu dieser Armee der vergessenen, aber einstmals sehr bekannten Dichter. Das war aber nicht der Grund, dass ich dachte, da müsste man ein Revival starten. Es ein tolles Beispiel dafür, wie es zu dem furchtbaren 20. Jahrhundert gekommen ist und welche verschiedenen Urströme es gab in ihrem Charakter. Die Baltendeutschen sind untergegangen, die Kultur gibt es nicht mehr. Alles, was in dem Film spielt, ist unbekannt. Deshalb gibt es eine grundmorbide Stimmung, nicht nur durch die Handlung, durch das Setting, sondern die Tatsache, dass uns klar ist, dass man das nicht kennt. Und trotzdem existiert es untergründig im Alltag.
„Poll“ besticht besonders atmosphärisch. Der Film erscheint als gewaltiges Konzeptwerk.
Das Thema des Films ist die Geburt durch Untergang. Das haben wir versucht mit zu erzählen. Schon das erste Bild dieses Films ist ein toter Käfer. Oda Schäfer hatte das Gefühl, sie war in einer Endzeit, konnte es aber nicht genau erfassen. Dass wollten wir übersetzen in Filmsprache und haben es dann in der Ausstattung, durch das Haus, in der Farbgebung, in den Details, in dem Beruf von Ebbo verstärkt. Der echte Ebbo war Journalist, kein Hirnforscher, der merkwürdige Präparate, sammelt. Die Kostümbildnerin hat alte Stoffe vernäht, was man nicht sehen kann, nur erspüren kann.
Wie ist Odas Charakterbild entstanden?
In dem Fall versuchte ich, so authentisch wie möglich zu sein. Es ist ein sehr persönlicher Film, weil ich die Existenz dieser Tante sehr spät erfahren habe. Ich habe nicht gewusst, dass sie existiert, bis ich Literatur studiert habe. Da bin ich zufällig auf ein Buch gestoßen von ihr: ein Lyrikband. Es stellte sich heraus: Oda Schäfer geborene Kraus war eine sehr nahe Verwandte von mir und meiner Großtante, die einzige Cousine meines Großvaters. Da ich aus einer rechtskonservativen Familie komme, einer in der Generation meiner Großtante nationalsozialistisch orientierten Familie, wurde über sie nicht gesprochen.
Wirst Du den düsteren Sujets Deiner vergangenen Filme treu bleiben?
Ich habe mir vorgenommen, etwas ganz anderes zu machen, etwas Leichtes. Ob es das wird, weiß ich nicht. Ich wollte auch diesen Film ursprünglich leichter machen, aber es ging nicht.
Wie viel Zeit hast Du in Estland und dem realen Poll verbracht? Sehen wird das echte Poll im Film?
Es gibt das echte Poll im Landesinneren. Dort wollte ich mal drehen, weil es ´93, als wir es gefunden haben, noch sehr morbide-abgewrackt war, was es heute nicht mehr ist. Wir haben eine eigene Welt kreiert, subjektiv überhöht.
Was fesselte Dich an dem Ort?
In Estland kam ich in ein Land, in den achtzig Jahren nichts passiert war, was ich jetzt versucht habe wieder aufzubauen. Als ich im echten Poll war, war alles noch genau so, wie es die Oda Schäfer in ihrem Buch beschrieben hatte. Das ist etwas, was ich konserviert habe in dem Film. Mit unheimlich viel Schweiß, Geld und Mitarbeitern das wieder zu kreieren; ein Gefühl, dass ich hatte, dann versuchte mit allen zu teilen, die den Film gemacht haben. Am Ende kommt so etwas bei raus. Hoffentlich.
Wie bist Du auf Deine herausragende Hauptdarstellerin Paula Beer gestoßen?
Durch Zufall. Die wurde gefunden von unserer Kinder-Casterin und hat diese schrecklichen Casting-Runden überlebt. Ich finde sie auch herausragend. Die hat ja noch nie gespielt. Normalerweise werden Kinder schlechter während der Dreharbeiten. Sie wurde aber immer besser. Das ist ungewöhnlich.
Was hast Du selbst vom Filmdreh mitgenommen?
Erst einmal bin ich dankbar, nie wieder damit zu tun zu haben. Was man mitgenommen hat ist eigentlich: unendliche Erschöpfung. Das sind gefühlte 30 Jahre. Deshalb der Wunsch nach etwas vollkommen anderem, einer Komödie. Sie lebt seit dieser Entdeckung, dass es sie gibt, in meinem Herzen. Und das bleibt sie auch, aber wir werden auf keinen Fall zu diesem Thema wieder einen Film machen. Das halte ich einfach nicht aus.
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