„Wir haben ihn wie ein Labyrinth geschrieben und wir hoffen, ihr verliert euch darin“, sagt Hélène Cattet bevor auf dem 28. Fantasy Filmfest in Berlin ihr zweiter Kinospielfilm als eines der Selected Features beginnt. Der Wunsch der Regisseurin von Amer und ihres Arbeits- und Lebenspartners Bruno Forzani (jüngstes Projekt: der Nachwuchs, der im Kinderwagen beim Vorgespräch zum Film dabei war) erfüllt sich in den nächsten 102 Minuten, die das Publikum in eine Phantasmagorie blutiger psychosexueller Obsessionen führen.
Cattet und Foranis Labyrinth liegt in Brüssels malerisch düsteren Art-Nouveau-Gebäuden, die das Regie-Duo anregten, die dunklen Geheimnisse verfallender Jugendstil-Schönheit zu ergründen. Die trügerische Architektur der sich in versteckte Zwischenräume und Irrgänge verzweigenden Bauten spiegelt zugleich den verwinkelten Plot und die kryptische Gedankenwelt der Figuren. Manche von ihnen sind Fragmente einzelner Charaktere, andere erotische (Alb)Träume. Die Puppen des verstörenden Grand Guignols betrachtet man durch die Augen des zentralen Akteurs. Wie in Amer, den die Regisseure als Schwesterfilm zu The Strange Color of Your Body‘s Tears bezeichnen, fokussiert die erste Einstellung die Augen. Vor ihnen zeigen sich groteske Gestalten und fetischisierte Objekte, bedrohlich und betörend. Hinter den Fenstern zur Seele lauern infernalische Fantasie- und Erinnerungsbilder, gleich der verbotenen Kammer in Blaubarts Burg. Wer das wohlversteckte Grauen einmal schaut, bleibt davon besudelt und fällt ihm selbst zum Opfer. Sogar die Filmautoren verlieren sich mitunter im Seriellen, wenn sie halb genüsslich, halb zwanghaft eine Szene aus unterschiedlichen Kamerawinkeln wiederholen.
Es sind Visionen von erschreckender Brutalität und provokanter Sinnlichkeit. Die Topoi des Giallo – blitzende Klinge, schwarze Handschuhe, die Signalfarbe Rot und zelebrierte Gewaltakte – fügen sich zu einem Mosaik, so fein verwoben und suggestiv wie die Art Deco Gemälde an den Wänden und Decken des Handlungsschauplatzes. Wände spenden hier weder Sicherheit, noch Geborgenheit, sondern sind lediglich ein Sichtschutz, auch auf emotionaler Ebene. Viele der Zimmer haben wie jeder aufflackernde Farbblitz und jede stilisierte Einstellung einen doppelten Boden. Er kann Schauplatz eines Verbrechens sein oder Unterschlupf eines heimlichen Voyeurs. Einen solchen ahnt der Kommunikationstechniker Dan Kristensen (Klaus Tange) in seinem Apartment, das er bei der Rückkehr von einer Geschäftsreise von innen verriegelt vorfindet. Die Wohnung in dem Altbau, in dem irgendwo vermutlich The Tenant Roman Polanskis lebt, ist leer. Fortan sucht Dan wie besessen nach seiner auf mysteriöse Weise verschwundenen Frau Edwige (deren Name Giallo-Darstellerin Edwige Fenech huldigt). Er findet einen Privatdetektiv (Joe Koener), eine nur in Hirngespinsten und auf Fotos sichtbare Schöne, eine hexenhafte Nachbarin und Traumfetzen von Messern, die Fleisch streicheln, schneiden und stechen, als gelte es auf zärtliche oder schmerzliche Art die tiefsten Geheimnisse aus den Charakteren heraus zu holen.
Der barocke Alptraum der belgischen Auteurs könnte in seiner überbordenden Stilisierung masochistischer und sadistischer Phantasmen kaum weiter entfernt sein von dem, in den Daniel Stamm seinen ahnungslosen Protagonisten schickt. Elliot Brindle (Mark Webber) führt ein bescheidenes Leben als Angestellter einer Versicherungsgesellschaft, die ihm statt der ersehnten Beförderung die Kündigung präsentiert. Er sei einfach zu gutmütig für den Erfolg, meint sein eiskalter Boss, den weder die finanzielle Notlage des werdenden Vaters, noch dessen private Bedrängnis erweichen. Nicht nur wird Elliots geistig zurückgebliebener Bruder Tom (Devon Graye) nun zur untragbaren Last für Elliot und seine afroamerikanische Freundin Shelby (Rutina Wesley), es droht der Einzug von Toms und Elliots altersschwachem Vater (Tom Bower), einem verbitterten Rassisten. Der schüchterne Elliot scheint der geborene Verlierer, weil er keiner Fliege was zu Leide tun kann. Was kleine und größere Gewaltausbrüche und Normverletzungen angeht, hat jeder seine eigene Hemmschwelle – und einen Preis, für den er diese absenkt. Bei Elliot sind es 1000 Dollar. Soviel verspricht ihm ein anonymer Beobachter am Handy, wenn Elliot zum Mörder wird: vorerst bloß einer nervigen Fliege. Die nächste Aufgabe ist buchstäblich um einiges unappetitlicher, aber dafür winkt ein höherer Geldtransfer.
Bevor er sich versieht ist Elliot Kandidat in einer heimtückischen Version von „Wahrheit oder Pflicht“. Entweder er gesteht Shelby, ihren erwartungsvollen Eltern, Tom und seinem abfälligen Vater die prekäre Lage und sich selbst sein Versagen ein oder er tauscht mit einem Obdachlosen die Klamotten, lädt einen Selbstmörder zum Kaffee ein und rächt sich an einem Fiesling aus Kindertagen. Die Motive der anonymen Stimme aus dem Off, die nach einer gewollt freudschen Interpretation der pechschwarzen Farce des Regisseurs von Der letzte Exorzismus auch die seines unterdrückten Es verkörpert, sind allerdings keineswegs altruistisch. Das Spielfeld, das Elliot leichtfertig betreten hat, geht weit über sein Leben hinaus und er ist nicht als einziger hinter dem Millionen-Gewinn nach Bestehender 13. Aufgabe her. Die sozialen und moralischen Implikationen der eine Portion Splatter nicht scheuenden Story scheinen mal allzu offenkundig, dann wieder obskur oder trivial. Womöglich war sich Stamm selbst nicht schlüssig, welchem Aspekt er bei der im Ansatz durchaus interessanten Neuauflage des thailändischen Thrillers 13: Game of Death in den Vordergrund stellen wollte.
So fehlt 13 Sins trotz gelungener Momente sardonischer Komik und überzeugender Darsteller, darunter Ron Perlman als Polizeiarbeiter, die inszenatorische Kongruenz von The Strange Colors of Your Body‘s Tears, ganz zu schweigen von dessen ästhetischer Geschliffenheit. Wie Cattet bei der Vorstellung ihre Werks sagt: „Es ist unser bester Alptraum.“
- Beitragsbild © Drop-Out Cinema