„Kann man an einem Tier eine Sünde begehen?“, grübelt Richard Harris in Orca, der Killerwal, einem 70er-Jahre-Tierhorrorfilm, dessen gestellte Angriffsszenen nicht annähernd so verstörend sind wie die Interviews und Amateurbilder in Blackfish. Die konzise Reportage erwidert ein bitteres Ja auf die theoretische Frage des Creature-Features, mit dem Gabriela Cowperthwaites eindringliches Kinodebüt mehr als der die gleiche Spezies benennende Titel verbindet.
Blackfish ist ein Tierhorrorfilm – auf seine Art. Die Kreatur, die bedrohlich auf dem düsteren Filmposter heranschwimmt, ist das Opfer. Tilikum heißt der 5,4 Tonnen schwere Orca, der gegenwärtig in SeaWorld in Orlando, Florida für Shows eingesetzt wird. Die meiste Zeit jedoch vegetiert der seit 30 Jahren in Gefangenschaft lebende Walbullen in seinem Becken, denn seine Hauptaufgabe ist die Zucht. Der größte außerhalb freier Wildbahn lebende Orca ist zugleich der größte Samenspender: eine lebende Garantie, dass die SeaWorld-Erlebnisparks der noch zahlreiche andere Themenparks besitzenden Gruppe auch zukünftig über ihre Hauptattraktionen verfügen. Ein Nachwuchslieferant wie der Tierprotagonist im Fokus der Regisseurin und ihrer Gesprächspartner, die fast alle mit dem Orca arbeiteten, kann das seit April an der Börse vertretene Unternehmen gut gebrauchen. Über 20 Tiere sind seit 1986 in den SeaWorld-Parks umgekommen: durch artfremde Haltung, kommerzielle Ausbeutung in den Shows und daraus resultierende Verhaltensstörungen. Nicht nur Tiere verlieren aufgrund der desolaten Zustände, die Amateuraufnahmen der Vorstellungen sowie Gespräche mit früheren Trainern und Vertretern der Arbeiterschutz- und -gesundheitsorganisation OSHA aufzeigen, immer wieder Tiere ihr Leben.
„Ich war stolz, eine SeaWorld-Trainerin zu sein“
Während einer Vorführung 2010 wurde die Trainerin Dawn Brancheau von Tilikum getötet. Der Vorfall, der durch die Medien ging und SeaWorld wegen unzureichender Vorkehrungen zum Schutz der Mitarbeiter vor Gericht brachte, ist Ausgangspunkt der differenzierten Untersuchung über das manipulative Marketingkonzept und die Skrupellosigkeit des Konzerns, der offenbar über Leichen geht: die der für die Zuschauer zu drolligen Kuscheltieren verzerrten Meeressäuger und die der Trainer. Wenn letzte vor der Kamera an ihre begeisterten Anfänge in den Parks zurückdenken, tragen sie das gleiche Funkeln in den Augen. Später ist es ein wütendes Funkeln über die eigene Naivität, Blindheit, Konditionierung. „Ich war stolz, eine SeaWorld-Trainerin zu sein“, berichtet eine Ex-Mitarbeiterin, die heute mit Beschämung gesteht, welche Lügen sie den Zuschauern aufsagte: die niedrige Lebenserwartung der Tiere entspräche ihrer natürlichen Altersspanne, die Kommandos bauten auf deren Spieltrieb auf, zwischen Tier und Mensch bestünde eine über das Belohnungs- und Strafschema hinausgehende Bindung. Tatsächlich sind Orcas Menschen in ihrem emotionalen Erleben überlegen; erläutern befragte Biologen.
Die Berichte über das ausgeprägte Sozialleben und die engen Familienbindungen der Spezies geben einen schmerzlichen Eindruck von der Grausamkeit der Tankhaltung. Eingepfercht in engen Becken, isoliert von seiner Herde und schikaniert von durch die unnatürliche Gedrängtheit aggressiv gewordenen Artgenossen brachte Tilikum drei Menschen zu Tode. Neben zwei SeaWorld-Trainerinnen traf es einen Besucher, der nachts heimlich durch den Park streunte und am Morgen tot in Tilikums Becken gefunden wurde. In welchem Zustand, dies wollte die Parkleitung – wie so viele unbequeme Fakten über drastische Zwischenfälle – zurückhalten. Doch die Unfallchronik des Parks, Obduktionsberichte und Videos verweben sich zu einem dichtmaschigen Netz, aus dem die Parkdirektion kein moralisches Schlupfloch finden könnte, würde sie sich überhaupt den Vorwürfen stellen.
Die Bestien sind nicht die Trainer, die selbst physische und psychische Narben davontragen, sondern die Unternehmer, die Mitarbeiter und Orcas verschleißen als handle es sich um drittklassige Merchandising-Artikel. Noch widerwärtiger sind höchstens die zahlenden Besucher, die das unethische Spektakel zu ihrer Belustigung beklatschen und wie einst die Zuschauer von Gladiatorenkämpfen und öffentlichen Hinrichtungen wissen: Die Brutalität ist kein bedauerlicher Nebeneffekt, sondern im Kartenpreis inbegriffen.
- OT: Blackfish
- Regie: Gabriela Cowperthwaite
- Drehbuch: Gabriela Cowperthwaite
- Produktionsland: USA
- Jahr: 2013
- Laufzeit: 83 min.
- Kinostart: 07.11.2013
- Beitragsbild © NFP