Barbara Yelins und Peer Meters Graphic Novel über Gesche Margarethe Gottfried und die vielen Arten von „Gift“
Ich habe mich aus tiefer Schmach entrafft
Vor Kindermärchen Ruhe mir geschafft
Hinunter stieß ich in das Schattenreich
Mann, Brüder, Vater, und ich ward zugleich
Geehrt und reich.
Adelbert von Chamisso
Ein Zug fährt durch karge Winterlandschaft. Im Abteil eine alte Frau und eine junge. Beide sind Bekannte und Unbekannte. Lou heißt die Junge. Noch kennt man sie nicht., dafür ihre ältere Begleiterin, eine Schriftstellerin, verraten die Dialoge. In der Zukunft wird es umgekehrt sein. Die jüngere wird man kennen, denn sie ist Lou Andreas-Salomé, lassen Anspielungen vermuten. Die Ältere wird unbekannt. Ein Gedenkstein wurde in vor langer Zeit Bremen gesetzt von „Unbekannt“. Von der alten Dame für eine andere bekannte Unbekannte. Eine Frau, deren Namen jeder kennt, doch deren Wesen niemand: Gesche Margarethe Gottfried. 15 Morde hat die 1785 in Bremen geborene Gesche begangen, womöglich mehr. 1831 wird die „Engel von Bremen“ Genannte enthauptet. Zwei Ehemänner, ihren Verlobten, ihre drei Kinder, Mutter und Bruder, Nachbarn und Freunde vergiftete sie mit „Mäusebutter“, Schmalz vermischt mit Arsen.
Gift heißt der neue Comic der in Berlin lebenden Künstlerin Barbara Yelin. Gemeinsam mit Peer Meter, der sich in seinem Szenario für den Anfang die Neunziger erschienene unvollendete Comicreihe Haarmann bereits mit einem deutschen Serienmörder beschäftigte, führt Yelin ihre Hauptfigur, eine aus London angereiste Autorin, auf die Spuren Gesche Gottfrieds. Die Ich-Erzählerin soll 1931 einen Reisebericht über Bremen verfassen. Zufällig erfährt sie von der bevorstehenden Hinrichtung. Unter der starren Moral des Biedermeier findet die namenlose junge Frau gesellschaftliche Heuchelei und Borniertheit. Sie rennt gegen Mauern an, aus Schweigen und aus Stein. Hinter einer davon sitzt Gesche Gottfried. Ganz nah. Unerreichbar. Männer predigen, schimpfen, befehlen. Frauen flüstern. Die Schatten werden drückender, die Besucherin sieht klarer. Köpfe müssen rollen: Der Giftmörderin wird ihrer abgehackt, die Ich-Erzählerin ist in Bremen nicht mehr erwünscht. Über den Fall schreibt sie nichts. Das Erlebte hat ihr die Sprache verschlagen. Das Fehlen eines klaren Motivs verstärkt den Schrecken der Morde. Aus Hilflosigkeit angesichts der seelischen Widersprüche der Täterin, scheint es, sagen ihr die Männer die über sie richten, stereotyp weibliche Laster nach: Gier, Wollust, Eitelkeit. Dabei mordete Gesche auch ohne materiellen Vorteil weiter, auch als Gerüchte die Anerkennung für ihre Pflege ihrer vermeintlich erkrankten Opfer überschatteten. Yelins Graphic Novel kreist um die „unheimliche Aura des Sinnlosen“, welche die Protagonistin in den Taten der Gottfried erkennt. „Ein Weib, das über ein Wort von Goethe weint und seine Kinder mordet“ ist etwas, das weder Geistliche noch weltliche Analytiker, dass die Mörder sich „selbst nicht erklären kann.“.
Oft muten die matten Bildfolgen filmisch an, deren Graunuancen an Carl Theodor Dreyers alptraumhaften Horrorfilm „Vampyr“ erinnern. Labyrinthartige Straßen vermitteln die erstickende Enge von Armut und Moral. „Jeder Zwang ist Gift für die Seele.“, schrieb Ludwig Börne. Gesche hatte reichlich davon trinken müssen, bevor sie es anderen reichte. Die altstädtischen Fassaden gleichen abweisenden Totenmasken. Bremen-la-Morte. Dort, scheint es der Hauptfigur, sei mit Gesche Gottfried „Eine der allerfürchterlichsten Gestalten der Märchenwelt der Romantiker in die Wirklichkeit gedrungen.“ Subtile Metaphern verbergen sich in den Bildern Yelins. Ein erschöpftes Zugpferd wird vom Kutscher gepeitscht bis es los prescht und dem Mann die Zügel aus der Hand reißt. War die Mörderin eine, die sich aufbäumte, als sie nicht mehr weiter konnte, in grausiger Weise die Zügel über Leben und Tod in die Hand nahm? Eine Geisteskranke, die aus Zwang stets aufs Neue zu Mäusebutter griff, „So etwas darf es nicht geben!“, insistiert Voget. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Eine (Weibs)Person, deren Verhalten gegen jeden Wert des Bürgertums steht, muss ausgelöscht werden.
Ihre einzige Begegnung mit der Mörderin hat die Hauptfigur im Traum. In einer Kirche sitzen sie und Gesche Margarethe Gottfried wie Angeklagte nebeneinander. „Brote schmieren“ solle sie in Bremen, verteidigt sich die Träumende, wofür sie von dem von der Kanzel predigenden Voget hört, sie wolle die Männer vergiften. Es ist das Gift der Aufklärung, worauf Yelin anspielt. Im mehr mittelalterlich denn biedermeierlich erscheinenden Bremen verbreitet dieses Gift der Ich-Erzählerin beinahe mehr Schrecken als die Mordserie. Dank ihrer subtilen Zeichenkunst und ausgefeilten Psychologie gelingt es Yelin die beiden Zentralen Frauengestalten zu geistigen Schwester zu machen. In den nebelartigen Grauschleiern schafft Barbara Yelin einen emotionalen Berührungspunkt zwischen zwei Charakteren, welche sich der ihnen von der Gesellschaft zugedachte Rolle verweigern.
Ein Spuckstein erinnert nahe des Bremer Doms an die Stelle, an der das Schafott stand. Indirekt ist er auch Markstein eines sozialen Übergangs. Rechtshistorisch bezeichnet der Gottfried-Prozess den Übergang von der frühneuzeitlichen Carolina zur modernen Strafprozessordnung. Das Verfahren ist ein frühes Beispiel für ein Schuldunfähigkeits-Plädoyer wie auch eines für die letzte öffentliche Hinrichtung in Bremen. Hinter der Sensationslust der Zuschauer der Hinrichtung lauert die Rechtfertigung des gemeinschaftlichen Wegsehens, welches die Verbrechen ermöglichte. Flüchtet die Hauptfigur wenig später, ist es auch vor dem Antlitz der Scheinmoral – erschreckender als das verhärmte Gesicht der Gottfried, welches der Einband von Gift zeigt.
Selbstsüchtig schuf der Stärk’re das Gesetz
Ein Schlächterbeil zugleich und Fangenetz
Für Schwächere zu werden. Der Herrschaft Zauber aber ist das Geld
Ich weiß mir Bess’res nichts auf dieser Welt,
als Gift und Geld.
Adelbert von Chamisso
Der Aufenthalt in Bremen wird länger dauern. Um die Zeit zu überbrücken suchen Lou und die alte Dame den Stein auf. Ein Passant spuckt auf den Stein, wie es noch heute üblich ist. Zuvor gibt er einem Leierkastenspieler einen Almosen. Ein seltsames Miteinander von Mitleid gegenüber einem Armen und Mitleidlosigkeit gegenüber der Toten. Die alte Dame ist empört über die Verachtung für „ihren Stein“, der allen Gemordeten gedenkt, nicht nur den Giftopfern. Wieder fehlen ihr die Worte. Es bleiben nur blasse Spuren, die der Schnee zudeckt.
- Titel: Gift
- Autoren: Barbara Yelin, Peer Meter
- Verlag: Reprodukt
- Jahr: 2010
- Beitragsbild © Reprodukt