„Das war schon die dritte Elektrolok, die vorbeifuhr. Aber wir warteten ja auf die letzte Dampflok.“ Die jungen Frauen, die gegenüber dem Bahndamm mit ihren Kameras warten, sind die freie Pressefotografin Edda und zwei ihrer Kolleginnen und Konkurrentinnen, „wartend auf ein der Veröffentlichung für wert erachtetes Ereignis.“ Die letzte Dampflok von West nach Ost im geteilten Berlin der 70er Jahre. Mit trockenem Witz reflektiert Helke Sander in ihrem 1977 entstandenen Doku-Fiktion ihre Erfahrungen als freischaffende politisch und feministisch engagierte Künstlerin. Ihr Werk ist ein Film zwischen den Genres: Charakterporträt, Sozialsatire, Experiment und Drama.
Mehr Tristesse als Menschen haust im gespaltenen Berlin, wo Edda Chiemnyjewski (Sander) einen Balanceakt lebt. Neben dem Kampf um künstlerische Selbstverwirklichung und beruflichen Erfolg bleibt ihr kaum Zeit für die kleine Tochter. Minimalistische Szenen rühren an die schleichende Entfremdung. „Morgen“ soll besser werden, verspricht sie, doch morgen wird sie wieder photographieren und versuchen, zu verkaufen. Trostlos sind die Bilder, gedreht in schwarz-weiß, doch visuell grau-in-grau. Er fordert heraus mit spröden Kantigkeit, einem trotzigen Individualismus, der den der Hauptfigur spiegelt. Der Konflikt der Protagonistinnen zwischen Selbstverwirklichungswunsch und beruflicher Realität hat nichts an Aktualität eingebüßt.
Nebenbei schildert die Regisseurin und Drehbuchautorin kritisch und unsentimental die finanziellen Bredouille der alleinerziehenden Mutter. Eddas freiberufliches Arbeiten setzen Auftraggeber mit Gratisarbeit gleich. Dass sie für alles und jeden Zeit hat oder sie sich nimmt, ist für die potenziellen Kunden selbstverständlich. Zahlen wollen sie hingegen generell nicht. Mit sarkastischem Witz enthüllt Sander die Entwertung freiberuflicher und insbesondere weiblicher Arbeit, wie sie heute weiterhin praktiziert wird. Ob Sozialaktivisten, Zeitungsverleger oder kulturelle Förderprojekte, alle teilen offen oder unausgesprochen die Ansicht, dass eine Freiberuflerin dankbar sein soll, dass ihre Fotos überhaupt gedruckt werden.
Eine Zeitung muss sie daran erinnern, dass ihr für ungefragt abgedruckte Fotos ein Honorar zusteht. „Mit Freundlichkeit kommt man manchmal nicht sehr weit“, erklärt sie dem pikierten Angestellten am Telefon. Sie verwende zu viel Zeit auf das Erfassen einer Situation, kritisiert eine Off-Stimme Eddas Präzision und Qualitätsanspruch. Was in der Story zum Nachteil wird, zeichnet das ebenso hintersinnige wie pointierte Lebensporträt aus. Wie Eddas Fotoobjekte sind die Episoden der authentischen Alltagsskizze nur aus einem bestimmten Winkel interessant. Nicht immer gelingt es Sander, diese Position einzunehmen. Doch wenn, dann trifft der Schnappschuss ins Schwarze.
- OT: Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers
- Regie: Helke Sander
- Drehbuch: Helke Sander
- Produktionsland: BRD
- Jahr: 1977
- Laufzeit: 98 min.
- Cast: Helke Sander, Joachim Baumann, Franck Burckner, Eva Gagel, Gesine Strempel
- Beitragsbild © Berlinale