Der Titel Vytautas Katkus‘ nachdenklichen Langfilm-Debüts vereist auf das Gefühl innerer Entfremdung, den der in sich zurückgezogene Protagonist am Schauplatz spürt. Einst war der kleine Ort, der malerisch im ländlichen Litauen von Wald umgeben an einem See liegt, Danielus (Darius Šilėnas) Zuhause. Doch dieses Konstrukt der Vertrautheit und Geborgenheit, nachdem der junge Protagonist sucht, liegt nun unerreichbar in der Vergangenheit. Seit über zehn Jahren lebt Danielus in Norwegen. Der Tod seines Vaters bringt ihn zurück in den Ort seiner Kindheit.
Was nur nach einer halben Synopsis klingt, beschreibt schon die ganze Geschichte der zurückhaltenden Befindlichkeitsstudie. Der litauische Regisseur und Co-Drehbuchautor folgt in seinem intimen Drama keiner Handlung im eigentlichen Sinne. Vielmehr ergründet die langen, oft dialoglosen Szenen miteinander verwachsene Zustände. Manche davon sind innere Zustände wie Danielus‘ Erinnerungen und Eindrücke, als er nach der Beisetzung beschließt, noch länger in seinem Herkunftsort zu verweilen. Doch ebenso interessiert ist die meditative Kamera, deren intuitive Aufnahmen Katkus selbst machte, an der Topographie und Stimmung.
Danielus wandert durch den Wald und horcht auf dessen Geräusche, lässt sich im See treiben und isst Eis am Strand, wie er es als kleiner Junge tat. Dass er die geliebten Gewohnheiten seiner Kindertage wiederholt, wird nie dialogisch erklärt, aber spricht von selbst aus den subtilen Szenen. Jene erzählen mit nur minimalen, oftmals beiläufigen Worten von prägenden Eindrücken und vielschichtigen Empfindungen. Durch den Tod des Vaters erfasst der unscheinbare Hauptcharakter einen umfassenderen Verlust: den eines Lebensabschnitts, den er loslassen muss.
In leisen, introvertierten Aufnahmen beschwört Vytautas Katkus sensibles Spielfilm-Debüt die Vergangenheit als geisterhaften Erinnerungsort herauf. Die gedeckte Farbpalette der naturalistischen Bilder unterstreicht dezent die bittersüße Wehmut des Protagonisten. Seine Einsamkeit erschließt sich als essenzieller Reifeprozess. Der weitgehende Verzicht auf Stilmittel balanciert die lyrische Aura der Bilder mit einem dokumentarisch anmutenden Realismus. Traumwandlerische Allegorien und nuanciertes Schauspiel betrachten die Landschaft als Katalysator seelischer Verfassung. Vage Sehnsucht, Trauer und kleine Glücksmomente verdichten sich melancholischen Parabel, die viel Geduld fordert, aber dafür belohnt.
- OT: The Visitor
- Director: Vytautas Katkus
- Year: 2025