Selbst außerhalb des Festival-Rahmens von Cannes, wo beide Filme im Frühjahr ihre Premiere feierten, provoziert Diego Céspedes‘ märchenhaftes Debüt-Drama unweigerlich den Vergleich mit Julia Ducournaus Alpha. Wie Ducournaus dritte Spielfilm-Arbeit spielt Céspedes‘ märchenhafte Coming-of-Age-Story in den frühen Achtzigern, als die AIDS-Epidemie ein unverstandenes, angstbesetztes Tabu-Thema darstellte. Die das analoge Filmformat und Stilmittel der Handlungsära aufgreifende Fabel übernimmt ebenfalls die Perspektive einer Protagonistin an der Schwelle zum Jugendalter. Deren halb kindlicher Blick beobachtet den schleichenden Tod eines engen Familienmitglieds mystisch verklärt.
Die phantastischer Veränderung erkrankter Körper ist in Céspedes Retro-Jugendrama indes nur eine kindliche Vorstellung. Jene erscheint der 11-jährigen Lidia (eine subtile Darstellung von Newcomerin Tamara Cortés), als ein gleichaltriger Junge ihr erzählt, wie die seltsame Krankheit in ihrer entlegenen Bergbau-Gemeinde übertragen würde. Ein heimtückischer Jäger wie die mit Raubtier-Namen ausgestatteten Trans-Frauen, bei denen Lidia aufwächst, hypnotisiert eine unschuldige männliche Beute. Der Hypnotisierte stirbt dann an „der Pest“, wie die Menschen im ländlichen Chile die Infektion nennen. Den Vorgang visualisiert eine einzelne magisch-realistische Szene.
Starke Momente wie dieser stilistische und narrative Schlüsselmoment, dessen Wirkung die Inszenierung nie mehr erreicht, stehen neben einer bezeichnenden Menge negativer Klischees, Stereotypen und fetischistischen Voyeurismus. Als Adoptivtochter des AIDS-kranken Transvestiten Flamingo (Matías Catalán) wird Lidia von den älteren Jungs aus dem Ort schikaniert. Obwohl die eingeschworene Trans-Alternativfamilie unter dem Schutz von Bar-Besitzerin Mama Boas (Paula Dinamarca) sich wehrhaft zeigt, wird Flamingo schließlich Opfer von Ablehnung und Ignoranz. Beides gärt unter dem gehässigen Humor der Handlung, die abwechselnd vorprescht und stagniert.
Sämtliche queeren Charaktere sind negative Tropes, eifersüchtig, zickig und überdeutlich maskulin. Sexuelle Identität, Orientierung und Vorlieben sind krude vermischt. Das verzerrte Zeitbild wird nicht kritisch reflektiert, sondern reproduziert. Menschliche Wärme und Empathie kommen vor allem durch das Schauspiel, während die Inszenierung die ausnahmslos tragischen Geschichten der queeren Figuren wiederholt für abgeschmackte Gags nutzt oder ironisch melodramatisiert. Lidia dient in diesem Szenario, das ständig in unfertige Nebenstränge abdriftet, lediglich als normative Identifikationsfigur, deren narrativ gänzlich überflüssige Romanze nur ihre Heterosexualität vorführen soll.
Satte Farben, grobkörniges Vintage-Format und unscharfe Vor- und Abspanntexte liefern eine visuell bestechende Hommage an das Kino der 80er-Handlungsära Diego Céspedes ambivalenten Spielfilm-Debüts. Dessen Gespür für ausdrucksstarke Ästhetik und visuelle Komposition steht in scharfem Kontrast zu den reaktionären Narrativen. Abgegriffene Klischees und toxische Tropes schaffen in ihrer Gestrigkeit ein unangenehmes Pendant zur Retro-Optik. Farbpalette, Licht und Szenerie schaffen eine mystische Atmosphäre, die mehr erzählt als das Drehbuch. Eindrückliche Momente poetischer Überhöhung und magisch-realistischer Verklärung überdecken kaum den schalen Nachgeschmack der reduktiven Coming-of-Age-Fabel.
- OT: La misteriosa mirada del flamenco
- Director: Diego Céspedes
- Year: 2025