Dramaturgisch teilt Harris Dickinsons vielversprechendes Regie-Debüt eine Reihe Eigenschaften mit seinem kantigen Protagonisten. Es ist manchmal bewundernswert zielstrebig, dann hoffnungslos verloren, beeindruckend authentisch und verlogen, gegenwärtig und gedankenabwesend, und geht in Richtungen, die offensichtlich die falschen sind. Vor allem ist es am überzeugendsten, wenn es sich Erwartungen widersetzt. Der Titel, ein veralteter Begriff für ein verwahrlostes Kind wie aus einem Charles-Dickens-Roman, ist halb Verweis in die Biografie, halb Synonym für die haltlose Situation des jungen Hauptcharakters.
Mike (Frank Dillane) lebt auf der Straße, ist substanzabhängig und schlägt sich mit Schnorren und kleinen Delikten durch. Tatsächlich ist dieser Auftakt, der Mikes Wesen, seinen Alltag und beider Herausforderungen etabliert, der stärkste Teil der unebenen Story. In Balance zwischen Poesie und Pragmatismus schafft Josée Deshaies handgeführte Kamera eine unaufdringliche Intimität, in der sich Mikes fragile Psyche andeutet. Dillanes subtile Körpersprache ist prägnanter als die lakonischen, bisweilen tragikomischen Dialoge, die wenig über Mikes Vergangenheit enthüllen.
Traumwandlerische Visionen, in denen er sich in einer moosbewachsenen Waldhöhle sieht, vermitteln eine Sehnsucht nach Geborgenheit, die von seiner marginalisierten Existenz unendlich weit entfernt scheint. Seine Verschlagenheit und Skrupellosigkeit, die unvermittelt hervorbrechen, sind weniger Kehrseite seiner Verletzlichkeit als deren direkte Konsequenz. Eine solche Kurzschlussreaktion bringt Mike ins Gefängnis, allerdings auch zu der engagierten Sozialarbeiterin Nadia (Shonagh Marie). Mit einem Job in einem Null-Sterne-Hotel und einem erfolgreichen Entzug hinter sich, scheint er auf dem Weg der Rehabilitation.
Ausgerechnet die aufkeimende Romanze mit Andrea (Megan Northam), die auf ihrem eigenen Besserungsweg kämpft, führt zu einem folgenschweren Ketamine-Crash. Doch was Mike tatsächlich aus der Bahn wirft – vermutlich nicht zum ersten Mal – ist die ihm aufgenötigte Aussprache mit seinem Überfallopfer. Seine Weigerung, Empathie und Reue zu heucheln, torpediert nachhaltig seine Reintegration in eine Gesellschaft, die für ihn nie einen Platz hatte. Der konsequente Bruch mit dem Trope der Läuterung enthüllt Konzepte wie „Reparative Justice“ als psychologische Strafe und strategische Performance.
Solche Schlüsselmomente, in denen der Plot über die Grenzen des Charakterportraits hinausgeht, um Institutionen wie die Exekutive Progressivität-Promotion zu demaskieren, sind indes rar. Zwar entflieht Dickinson, der in einer Cameo als ebenfalls wohnungsloser Feind des Protagonisten auftaucht, dem scheinheiligen Sozialkitsch der Hotel-Arbeitsszenen, doch ganz entkommt sein selbstverfasstes Skript den narrativen Mustern nicht. So wird Substanzkonsum einseitig negativ dargestellt und Mike zeigt keinerlei äußerliche Spuren langjähriger Obdachlosigkeit. Das Schlusskapitel bleibt ein frustrierend unentschlossenen Abriss.
Traumfragmente sind in Harris Dickinsons ambitionierten Regie-Debüt auch Fluchtpunkte einer Inszenierung, die vor selbstgestellten Anforderungen zurückschreckt. Dennoch birgt das ungeschliffene Porträt einer urbanen Randexistenz Momente brüchiger Lyrik und unvermittelter emotionaler Tiefe. Frank Dillanes nuancierte Darstellung trägt die Handlung auch über schematische Strecken. Erratische Kamerabilder in dezent entsättigter Farbpalette zeigen London von seiner schäbigen Seite und machen das unsichere Setting zur psychischen Topographie des unbeständigen Protagonisten. Seine Story besticht gerade durch ihre Unvollkommenheit mehr als glattpolierte Hochglanz-Drama.
- OT: Urchin
- Director: Harris Dickinson
- Year: 2025