Es sei eine nach vorn schauende Festival-Ausgabe, die den Blick fest in die Zukunft gerichtet habe, verkündete Artistic Director A. Nazzaro über das 78. Locarno Film Festival, das am vergangenen Samstag nach zehn bewegten Tagen zu Ende ging. Die Filme indes sagen etwas anderes. Erinnerung und eine pessimistische Perspektive, verdüstert von historischen Traumata und gegenwärtiger Gewalt manifestierten sich als übergreifende Themen eines polarisierten Programms. Einige dessen filmischer Beiträge reflektierten die omnipräsente Vergangenheit kritisch, die meisten indes referenzierten und reanimierten sie als Emblem verlorener Größe. Schon Tamara Stepanyans Eröffnungsfilm In the Land of Arto markierte das allgegenwärtige Motiv kriegerischen Traumas und Terrors.
Ob in fiktionalisiert wie in Jafar Panahis Cannes-Premiere It Was Just an Accident und in Mohamed Al Daradjis Drama Irkalla: Gilgamesh‘s Dream oder dokumentarisch wie in Abbas Fahdels Tales from the Wounded Land und Kamal Aljafaris Doku With Hasan in Gaza: Krieg und militärische Repression blieben die thematischen Schwerpunkte eines Festivals mit nur wenigen leichten Tönen. Ein Schweigemoment begleitet von einer symbolischen Aktion setzte ein Zeichen gegen den Genozid in Gaza, doch verpuffte mit dem Beigeschmack einer hilflosen Geste. Selbst, wo keine bewaffneten Konflikte vorherrschten, blieben die inszenierten Erinnerungen schmerzlich vorbelastet, wie in Brian Kirks eisigem Thriller The Dead of Winter, Sophy Romvaris psychoanalytischem Familienporträt Blue Heron und Julie Pacinos surrealem Regie-Debüt I Live Here Now.
Die Western-Satire Heads or Tails, Miguel Angel Jimenez The Birthday Party, der mit Willem Dafoe einen der prominentesten Gäste dieses Jahres nach Locarno lockte, und Joachim Triers Senimental Value zeigten patriarchale Machtstrukturen mal kritisch, mal kanonisiert, aber stets aus männlicher Perspektive. Letzte zeigte sich voyeuristisch und verachtungsvoll in Abdellatif Kechiches Mektoub, My Love: Canto Due. Dessen Präsenz im Wettbewerb erinnerte daran, dass auch ein vermeintlich progressives Festival wie Locarno Tätern bereitwillig eine Bühne bietet, sofern Medienaufmerksamkeit lockt. Der Regisseur erschien zwar nicht, aber seine Ehrung gab Nazzaros Schlusswort einen zynischen Unterton: “A festival is like building a better tomorrow. One film at the time”.
Wer an diesem „besseren morgen“ teilhaben kann, ist eine andere Frage. Sie stellt sich mit neuer Dringlichkeit in einem Festival-Jahrgang, der kaum queere Werke präsentierte. Dass mit Bill Condons Remake Kiss of the Spider Woman ausgerechnet ein dramatisch und ideologisch ganz den reduktiven Stereotypen und Narrativen der 80er verschriebenes Musical das Festival beschloss, unterstreicht die regressive Tendenz in queerer Repräsentation. Der eskalierende Neo-Konservativismus wurde zur beklemmend normalisierten Dauerpräsenz in einer Kino-Auswahl, unter der Werke wie der mit rechten Kampfbegriffen beworbene Kinderfilm Badgers schon die jüngste für rechten Populismus rekrutierte. So spiegelte die jüngste Ausgabe letztlich gerade in ihrer Dualität die gegenwärtige Zeit.
Während die verheerenden Auswirkungen menschenverachtender Ideologien auf der einen Seite beklagt werden, werden eben jene Ideologien auf der anderen Seite amplifiziert. Dass mit Sho Miyakes ruhigem Drama Two Seasons, Two Strangers erstmals seit fast zwei Jahrzehnten wieder ein japanischer Film den Goldenen Leoparden holte, zeigt die Sehnsucht nach einem Rückzug in gediegene Gedankenwelten. Dies bestätigten die unverfänglichen Preise für den Dokumentarfilm Hair, Paper, Water …, das semi-fiktionale Familienporträt Hijo Mayor und White Snail. Vor diesem Hintergrund bleibt Locarno 2025 in Erinnerung als ein Ort, an dem sich politisches Bewusstsein, ästhetische Wagnisse und die Macht des Kinos verschränkten – zu welchem Effekt, das ist eine andere Problematik.
Alle preisgekrönten Filme des Festivals findet ihr hier.