Die Weiten offenen Wassers werden in Zhannat Alshanovas durchdachtem Langfilm-Debüt zum allgegenwärtigen Sinnbild des unermüdlichen Drangs der jungen Protagonistin nach Freiheit und Autarkie, aber auch der ethischen Untiefen einer nur scheinbar egalitären Gemeinschaft. Der Einschluss in diese wird für die 17-jährige Mila (Tamiris Zhangazinova) buchstäblich zum Sprung ins kalte Wasser. Jeder Schwimmzug verläuft auf einer schmalen Bahn zwischen dem Eintauchen in Zugehörigkeit und dem Strudel von Machtmissbrauch und Manipulation. Das Kasachstan der 80er wird zum Spiegel einer Gegenwart mit beklemmend ähnlichen Kontrollstrukturen.
Jene etablieren sich fast unmerklich unter dem Deckmantel von Gemeinschaft und Unterstützung. Davon gibt es wenig im instabilen Elternhaus der ehrgeizigen Protagonistin, die sich daheim um ihre kleine Schwester Lina (Medina Sagindykova) kümmern muss. In der offenen Schwimmmannschaft des charismatischen Trainers Vlad (Valentin Novopolskij) findet die begabte Sportlerin neben gleichgesinnten Freundinnen eine ökonomische Perspektive. Das Team bietet ihr Struktur, Halt und Orientierung in einem Zustand sozialer, emotionaler und ideeller Ziellosigkeit. Doch das scheinbare Ideal von Fairness und Kollektivgeist entpuppt sich zunehmend als Geflecht subtiler Kontrolle und moralischer Grauzonen.
Der Platz im Team muss beständig verteidigt und neu verdient werden. Vlads Philosophie, dass beim Freiwasser-Schwimmen allein die mentale Einstellung entscheide, wird zum mehrdeutigen Mantra. Ergebenheit und grenzüberschreitende Loyalität wiegen mehr als sportliche Leistungen. Statt die Selbstständigkeit der jungen Mädchen zu stärken, schafft das Trainingskonzept gezielt Abhängigkeitsverhältnisse und Konkurrenzkampf. Das naturalistische Spiel der Jungdarstellerinnen vermittelt den inneren Zwiespalt in gefassten Gesten und unauffälligen Blicken, die mehr sehen, als sie offen aussprechen. Der Preis für Akzeptanz ist ebenso hoch wie der für Komplizenschaft.
Die politischen Parallelen zwischen dem Mannschaftssport und dem kommunistischen System sind unübersehbar. Doch die kasachische Regisseurin und Drehbuchautorin begnügt sich nicht mit der allegorischen Analyse der Landesgeschichte. Jene reflektiert stattdessen kritisch eine Moderne, in der Peer Pressure, Assimilationsdruck und strukturelle Zwänge direkten Zwang ersetzen. Insbesondere die Gender-Dynamik verdeutlicht das Fortbestehen vorgeblich überwundener Hierarchien. Machtmonopole maskieren sich als freundschaftliche Förderung, deren Schattenseiten als rationaler Gemeinschaftssinn ausgegeben werden.
In einem Regie-Debüt von seltener politischer Schärfe bricht Zhannat Alshanova mit der Tendenz des kasachischen Kinos zu idealistischen Nationalporträts. Der historische Handlungsrahmen entrückt das gesellschaftskritische Geschehen nicht, sondern verdeutlicht die Kontinuität repressiver Muster. Die Schwimmmannschaft wird zum Mikrokosmos einer Gesellschaft, in der Zugehörigkeit an Bedingungen geknüpft ist und Macht oft unausgesprochen ausgeübt wird. Stilistisch zurückhaltend, doch visuell prägnant verraten lange, gemessene Einstellungen und Nahaufnahmen die verborgenen Unruhen unter einer trügerisch glatten Oberfläche. Mit unterkühlter Ästhetik und prägnantem Schauspiel ergründet ihr vielversprechendes Coming-of-Age-Drama das soziologische Spannungsfeld zwischen Selbstverwirklichung und Anpassung.
- OT: Becoming
- Director: Zhannat Alshanova
- Year: 2025