Der Titel Nicolas Graux’ und Trương Minh Quýs enigmatischen Spielfilm-Debüts verweist in seiner motivischen und metaphorischen Vielschichtigkeit die kreative Komplexität eines Werks auf der Grenze zwischen bebilderter Ballade und dokumentarischer Observation. In deren Zentrum steht eine greise Frau der Ruc, einer ethnischen Gruppe Vietnams, deren Sprache vom Verschwinden bedroht ist. Nur rund 250 Menschen sprechen Ruc, das die zurückgezogene Protagonistin ihren Enkelkindern beibringt. Die Titelworte evozieren sowohl ihr geduldiges Wiederholen der Begriffe als auch die unterschwelligen Kernthemen der poetischen Meditation über Erinnerung, Sprache und Weitergabe.
Haar deutet auf die zwischenmenschliche Nähe, die durch die fast rituell anmutende Weitergabe der Sprache zwischen der Protagonistin und den Enkelkindern entsteht. Papier impliziert formellen Dokumentation, aber auch Vergänglichkeit. Wasser ist das Schlüsselelement der immersiven Inszenierung, allgegenwärtig in Form von Regen, nebeligem Dunst und dem Flusslauf. Nahe ihm lebt die Frau, die ohne genannten Namen und genaues Alter zugleich autark und allegorisch erscheint. Ihre weit über die Sprache hinaus reichenden Kenntnisse markieren einen durch mündliche Weitergabe, Erfahrung und Beobachtung erlangten Wissensschatz, der sich akademischer Archivierung entzieht.
Der drohende Verlust dieses Wissen über Kulturtradition, Landschaft und Natur sowie dessen Geringschätzung in einem durch institutionelle Hierarchien und materialistische Monopolisierung abgekanzelten Bildungskonzepts sind Teil der leisen Tragik der kontemplative Elegie. Subtile Schwermut begleitet ihre Berichte von einer tiefen Sehnsucht nach der Höhle, in der sie vor über 60 Jahren geboren wurde, und Träumen von ihrer Mutter, die sie zu sich ruft. Die Zwischentitel, die den intuitiven Handlungsverlauf in ungleiche Kapitel unterteilen, betonen die spirituelle Ebene der organisch in das Leben der Protagonistin verwobenen Natur.
Sie knüpfen nur vereinzelt an unmittelbare Ereignisse oder Elemente an und beschwören vor allem Stimmungen. Erinnertes und Erträumtes sind ebenso bedeutsam wie reale Geschehnisse in dem nuancierten Porträt. Die Kamera verweilt in stillen Einstellungen, beobachtet Figuren aus unmittelbarer Nähe, doch mit respektvoller Zurückhaltung. Eine fast taktile Plastizität durchzieht die Bilder: feuchte Wände, taufeuchte Blätter, nasse Stoffe schimmern mit verborgener Bedeutung. Natürliches Licht, geringe Kontraste und eine dunkle, gedeckte Farbpalette verleihen jedem Bild eine gedämpfte Innerlichkeit. Trauer erscheint hier nicht als Ereignis, sondern als atmosphärische Konstante.
In ihrer zweiten Zusammenarbeit nach ihrem gefeierten Kurzfilm Porcupine verknüpfen Nicolas Graux und Trương Minh Quý ein feinfühliges Charakterbild mit der diffizilen Studie eines im Umbruch begriffenen Kulturkreises. Sprache erschließt sich nicht nur bloßes Kommunikationsmittel ist, sondern als Brücke zwischen Generationen, Trägerin von Erinnerung, Identität und Spiritualismus. Statt einer chronologischen Struktur zu folgen, entfaltete sich das Geschehen in hintergründigen Vignetten. Zeit zerfließt im über der geisterhaften Szenerie hängenden Nebel, der die Grenzen von Traum und Realität verwischt. Trauer erscheint hier nicht als Ereignis, sondern als atmosphärische Konstante.
- OT: Tóc, Giáy Và Nuóc
- Director: Nicolas Graux, Trương Minh Quý
- Year: 2025