Feine Ironie, melancholische Introspektion und die herausfordernde Identitätssuche in einer unbeständigen Welt durchziehen Ruan Lan-Xis pointiertes Festival-Feature. Mit 66 Minuten geht die episodische Geschichte um die in Berlin lebende Koreanerin May (Jung Hyeonsu), in der die unvermittelte Trennung ihres Freundes Sehnsucht nach emotionaler Beständigkeit weckt, gerade so als Langfilm durch. Dabei fliegt die tragikomische Handlung so rasch dahin, als wäre das Kino-Debüt ein Kurzfilm. Oder genauer gesagt: mehrere Kurzfilme. Die impulsive Handlung ist weniger eine geradlinige Erzählung als eine Collage urbaner Vignetten.
Jene beleuchten mal nachdenklich, mal amüsant, mal romantisch die verschiedenen Facetten der schlaflosen Protagonistin, in der bittersüße Erinnerungen an ihre Kindheit in Seoul wach werden. Persönliche Bindungen und die (Un)Zuverlässigkeit nahe stehender Menschen sind übergreifende Motive dieser von May aus dem Off erzählten Gedanken, die Lan-Xi mit Bildern des nasskalten Berlins unterlegt. Die nass-kalte Kulisse betont die trübe Stimmung, die Momente subtiler Komik aufbrechen. Lose verbundene Szenen beiläufiger Gespräche, Erinnerungsfetzen und zufälliger Beobachtungen fügen sich zu einem Mosaik der wechselnden Stimmungen Mays.
Laut der Regisseurin und Drehbuchautorin wurde die Hauptfigur von verschiedenen Frauen aus ihrem Bekanntenkreis inspiriert. Dieses Komposit-Konzept durchdringt das zurückhaltende Spiel Jung Hyeonsus, hinter deren Figur verschiedene Persönlichkeiten greifbar bleiben. Paradoxerweise spiegelt diese Zersplitterung Mays inneren Schwebezustand zwischen Seoul und Berlin, Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Vorstellung. Der beiläufige Charme entfaltet sich in Zwischentönen und unscheinbaren Momenten, untermalt durch Musik von Moondog. Freundschaften überdauern, wo romantische Begegnungen unverbindlich bleiben. Trotz leiser Wehmut bleibt das Alltägliche als Quelle von Nähe, abseits pompöser Liebesdramen.
Die Flüchtigkeit, die Ruan Lan-Xi zum zentralen Aspekt ihres lakonischen Langfilm-Debüts macht, zeigt sich nicht nur in dessen knapper Laufzeit. Die fragmentierte Struktur gleitet von einem Handlungsstrang zum nächsten und lässt dabei vieles im Vagen. Doch diese Offenheit ist Teil des Konzepts des persönlichen Porträts einer Frau zwischen Orten, Zeiten und Identitäten. Das mehrsprachige Werk, das in der Cineasti del Presente-Sektion des 78. Locarno Filmfestivals premiere feiert, berührt mit leichter Hand gewichtige Themen: Einsamkeit, Erinnerung und die feinen Brüche im Alltag, die unvermittelt ins Straucheln bringen.
- OT: The Plant from the Canaries
- Director: Ruan Lan-Xi
- Year: 2025