Der Spuk, der Julian Radlmaiers tragikomische Kleinstadt-Kurzgeschichten als mystisches Motiv verbindet, legt sich ein wenig auch über den Titel. Bei dem will man unwillkürlich aus dem “in” ein “nach” machen. Das wäre natürlich unsinnig, denn niemand sehnt sich nach Sangerhausen. Eher schon fort von dem erstickend adretten und akkuraten Schauplatz des Quartetts launiger Episoden. Deren erste drei tragen den Namen der jeweiligen weiblichen Hauptfiguren. Lotte (Paula Schindler), Ursula (Clara Schwinning) und Neda (Maral Keshavarz) teilen neben ihrer Verbindung zum Titelort auch die Sehnsucht.
Diese unspezifische Wehmut nach dem Unbekannten, nicht nur einem anderen Ort, sondern einem anderen Leben mit anderen Möglichkeiten. Dieses Sehnen und dessen Vergeblichkeit eint in dem novellesken Narrativ Frauen von der Frühromantik bis zur Gegenwart und von Teheran bis Sangerhausen. Dort schuftet die junge Lotte im 18. Jahrhundert als Dienstmagd für eine elegante Herberge, in der auch ein gewisser aspirierender Autor namens Georg Philipp Friedrich von Hardenberg gastiert. Sein Alias Novalis findet Lotte albern, doch seine Zeilen über eine blaue Blume benennen ihre Gefühle.
Lotte hat auch etwas Blaues, allerdings nur einen Stein, der ihr prompt zum Verhängnis wird. In der Jetztzeit findet den Stein Ursula, deren Jobs als Reinigungskraft und Kellnerin von Lottes Leben nicht weit entfernt sind. Die besondere Verbindung zwischen den Beiden unterstreicht die biografischen Parallelen. Zwar ist die Müttersterblichkeit gesunken, doch Klassengräben und Standesdünkel sind unverändert. Die iranische Reise-Bloggerin Neda wiederum leidet unter rassistischen Anfeindungen. Deren Vergleich mit klassistischen und akademistischen ist auf soziologischer und psychologischer Ebene so problematisch wie auf dramaturgischer.
Radlmaier sieht die Gemeinsamkeit in der Erfahrung, nicht dazuzugehören. Neda, Ursula und Lotte leben Existenzen definiert von gesellschaftlichen Grenzen, ungeschrieben und unüberwindbarer. Die Geistersuche entwickelt sich zur existenzialistischen Suche nach Akzeptanz, Verständnis und gemeinschaftlichem Anschluss. Ursachen und Mechanismen von Diskriminierung und Ausgrenzung übergeht die verspielte Story indes ebenso wie psychologische Einblicke. Der eigene bildungsbürgerliche Blickwinkel der ironischen Inszenierung ist letztlich Teil der Strukturen, die sie beklagt. Das Szenario bleibt so gefällig und bieder wie die warmen Postkartenbilder, in die Kameramann Faraz Fesharaki blumigen Landschaften einfängt.
Die Verknüpfung soziologischer und systemkritischen Aspekte mit übernatürlichen Elementen bleibt auch in Julian Radlmaiers jüngstem Werk eine konzeptionelle Konstante. Geistergeschichte und Gesellschaftsbetrachtung verflechten sich zu einer übersinnlich angehauchten Humoreske. Deren gelungene Momente zeigen die verdeckten sozialen Hierarchien hinter geheuchelter Liberalität und die dumpfen Ressentiments hinter der pittoresken Fassade eines selbststilisierten Kulturorts. Dezente Komik, skurriler Lokalkolorit und souveränes Schauspiel helfen der episodischen Handlung nur bedingt über die inhaltlichen Defizite. Die Reflexion über Zugehörigkeit und Entfremdung im heutigen Deutschland verliert sich in unentschlossenen Ansätzen.
- OT: Sehnsucht in Sangerhausen
- Director: Julian Radlmaier
- Year: 2025