Giallo, Kafka, die Gebrüder Grimm und Hitchcock sind nur die markantesten Referenzen des surreale Strudels in die zersplitterte Seele der jungen Protagonistin Julie Pacinos psychopathologischen Spielfilmdebüts. Dessen minimalistische Handlung entwickelt sich nicht linear voran, sondern dringt vielmehr in die Tiefe. Der Plot führt die aufstrebende Schauspielerin Rose (Lucy Fry) in die dunkelsten Abgründe ihres Bewusstseins. Oder genauer: dessen hinterste Kammern. In dem mysteriösen Hotel, in das Rose während einer persönlichen Krise eincheckt, entdeckt sie verborgene Zimmer und seltsame Gäste, die traumatische Erinnerungen wecken.
Gerade als ihre herrische Agentin Cindy (Cara Seymour) ihr eine vielversprechende Rolle anbietet, entdeckt Rose ihre Schwangerschaft, obwohl sie aufgrund eines traumatischen Ereignisses als unfruchtbar galt. Unter wachsendem Druck ihres selbstbezogenen Freundes Travis (Matt Rife) und seiner rigiden Mutter Martha (Sheryl Lee) flieht Rose in das heruntergekommene Crown Inn Motel. Dessen symbolreicher Name ist nur eine der allgegenwärtigen Anspielungen, die auf den wahren Charakter des unheimlichen Ortes verweisen – und auf die brutalen Erlebnisse, die Rose seit ihrer Kindheit verdrängt hat.
Die Künstlichkeit des labyrinthischen Gebäudes, das überdeutliche Metapher von Roses instabiler Psyche ist, wird zum eigenen Stilmittel der ambitionierten Inszenierung. Beengte Räume, improvisierte Szenenbilder und unklare Umgebungen evozieren eine Aura von Desorientierung, Klaustrophobie und abstrahierter Ängste. Jene verkörpern die bizarren Gäste des schäbigen Schauplatzes, der außerhalb von Raum und Zeit zu existieren scheint. Die undurchsichtige Ada (Lara Clear), die infantile Sid (Sarah Rich) und die forsche Lillian (Madeline Brewer) sind angelehnte Bruchstücke von Roses Persönlichkeit, denen sie sich schließlich stellen muss.
Kameramann Aron Meinhardts haptischer 35mm- und 16mm-Film kleidet das suggestive Szenenbild – teils Spukschloss, teils Kinderzimmer und Krankenhaus – in konträre Farbpaletten und haptische Texturen. Roses fast monochrome Alltagswelt steht im Kontrast zu dem intensiven Rot, Schwarz und Gelb ihrer Seelenwelt. Eine elliptische Struktur, geformt von Traumlogik und alptraumhafter Assoziation verleiht dem symbolistischen Schauspiel die Aura eines morbiden Märchens. Anflüge von Theatralik und Orientierungslosigkeit machen das unebene Schauspiel paradoxerweise ums passender für diese Wirklichkeitsflucht. Deren ambivalenter Ausgang ist ein konsequenter Bruch mit Konventionen, narrativ und pathologisch.
Narben, Brüche und Verstörungen faszinieren Julie Pacino spürbar mehr als Heilung und Integration. So rückt auch der verschlungene Plot ihrer subjektiven Spurensuche immer näher an die dramatische Desintegration. Ein eindeutiges Aufschlüsseln des Geschehens bleibt ebenso aus wie beruhigende Restauration. Doch gerade dieser Mut zu Ambivalenz und dem Widerspruch zu Publikumserwartungen hebt das kantige Kino-Debüt aus der Masse psychologischer Genre-Werke hervor. Alptraumhafte Atmosphäre, kafkaeske Kulissen und ungeschliffenes Schauspiel fügen sich zu einem eigenwilligen Independent-Werk, das sich bewusst von Hochglanz-Ästhetik und nepotistischem Narzissmus distanziert.
- OT: I Live Here Now
- Director: Julie Pacino
- Year: 2025