Das Kino erscheint zugleich als Refugium und Reflexionsraum einer beunruhigenden Realität zum 78. Locarno Film Festival. Dessen Programm ist mit knapp über 220 Titeln ein sorgsam kuratiertes Gegengewicht zur unübersichtlichen Beliebigkeit von Berlinale oder Tallinn. Zwei Drittel der Langfilme, die vom 6. bis zum 16. August rund um die – und im Falle der gleichnamigen Sektion, direkt auf der – Piazza Grande gezeigt werden, sind Weltpremieren. Dazu zählt auch der armenisch-französische Eröffnungsfilm. Tamara Stepanyans persönliches Drama In the Land of Arto versammelt eine Reihe Leitmotive der diesjährigen Festival-Ausgabe: Krieg und Trauma, Verdrängen und Erinnerung, die gegensätzlichen psychosozialen Impulse von Gegenwart und Vergangenheit.
Diese Motive räsonieren ebenso in den 18 Wettbewerbs-Beiträgen, die 26 Nationen vertreten – darunter allerdings kein einziger Beitrag eines afrikanischen Landes. Diese wurden ausgelagert in das Open Doors Programm, das stolz seinen Fokus auf den afrikanischen Kontinent präsentiert. Solche subtileren Manifestationen reaktionärer Strukturen zeigt sich auch auf anderen Ebenen. Unter den 20 Filmschaffenden des Wettbewerbs sind immerhin acht Frauen; allerdings ohne eine Perspektive aus der Unterschicht oder queere Perspektive. Zu den meistbeachteten zählen Ben Rivers dystopische Theater-Adaption Mare’s Nest, Alexandre Koberidzes magisch-realistisches Road Movie Dry Leaf, Abdellatif Kechiches Abschluss seiner Romantik-Trilogie Mektoub, My Love: Canto Due und Radu Judes gesellschaftskritische Groteske Dracula.
Vom klassischen Drama über dokumentarische Formen bis zu Experimentalfilmen ist nahezu alles vertreten – außer Horrorfilm, obwohl oder gerade weil mittlerweile kaum ein Unterschied zum Dokumentarfilm geblieben scheint. Glamour zur Ablenkung gibt es in Locarno weniger, dafür kommt man den Talenten so nah wie auf kaum einem anderen A-List-Festival. Mit etwas Glück sogar den prominenten Gästen der Open Air Screenings der Piazza Grande. Zu deren Highlights gehören Miguel Ángel Jiménez‘ The Birthday Party mit Willem Dafoe in der Rolle eines skrupellosen Patriarchen, Brian Kirks Action-Thriller The Dead of Winter sowie Jean-Stéphane Brons beunruhigend aktuelle TV-Serie The Deal über die 2015er Nuklearwaffen Verhandlungen zwischen USA und Iran.
Preisgekrönt aus Cannes kommen Jafar Panahis Rache-Komödie It Was Just an Accident, Hafsia Herzis Coming-Out-Drama The Little Sister und Joachim Triers Familien-Soap Sentimental Value sowie – ohne Preis – Alessio Rigo de Righi und Matteo Zoppis Neo-Western Heads or Tails? Von Sundance kommt neben Michael Shanks Horror-Comedy Together Bill Condons Abschlussfilm Kiss of the Spider Woman, eine Neu-Adaption des gleichnamigen Bühnenstücks. Der diesjährige Ehren-Leopard geht an Alexander Payne, der Lifetime Achievement Award an Lucy Liu, der Career Achievement Award an Jackie Chan. Emma Thompson bekommt den Preis des Leopard Club. Letztes klingt ein bisschen nach Safari-Verein, aber Hauptsache, die Kino-Ikone erscheint vor der malerischen Kulisse.
Moviebreak ist für euch natürlich auch zehn Tage vor Ort, ob auf der (hoffentlich) sonnigen Piazza oder im schattigen Kino. Wir bringen euch Interviews, Vor-Ort-Einblick und wie immer jede Menge Filmbesprechungen. Viel Spaß!