Der Titel Robert Guédiguians Seminar-biografischer Sozialromanze bezieht sich nicht nur auf die Perspektive der Protagonistin, die sich in fortgeschrittenem Alter noch einmal frisch verliebt. Der demonstrative Hedonismus des Ausrufs spricht noch mehr vom individualistischen Selbstverständnis einer bildungsbürgerlichen Bohème, deren Liberalismus längst von links zu neo gewandert ist. Vertreten wird diese materialistische Mittelschicht dramaturgisch und politisch von der engagierten Lokalpolitikerin Rosa. Die von Ariane Ascaride mit mütterlicher Wärme verkörperte Heldin ist Herz und Seele des Marseilles‘ Noailles-Viertels.
Der Bezirk erlangte tragische Berühmtheit, als am 5. November 2018 um 9 Uhr morgens zwei aneinandergrenzende Gebäude unvermittelte einstürzten. Acht Menschen starben bei dem Unglück. Nachrichtenberichte auf Archivmaterial eröffnen die Handlung, die sich um ein halbes Dutzend der Anwohnenden entspinnt. Rosas Sohn kommunistischer Sohn Tonio (Gérard Meylan). Sein Bruder Sarkis (Robinson Stévenin), der ein armenisches Bistro betreibt und mit Musiklehrerin Alice (Lola Naymark) auf Nachwuchs hofft. Alice entfremdeter Vater Henri (Jean-Pierre Darroussin), der Rosa verfällt.
Die süßlich-sentimentalen Szenen beider aufkeimenden Zuneigung schwelgen in pittoreskem Stadtkolorit. Jedes Setting strahlt einladend in warmen Licht und ist voller gastfreundlicher Menschen aus aller Welt, vor allem aber der armenischen Diaspora. Die Multikulti-Gemeinde ist das aufgeschossene Gegenkonstrukt der sozialen Spaltung, die nicht nur in Frankreich beunruhigend wächst. Der Rechtsruck existiert in den künstlichen Kulissen mit dem Flair eines Reiseprospekts nicht. Armut und Ausgrenzung existieren scheinbar nicht. Der konservative Grundton ist geschickt in die Seifenopern-Story eingeflochten.
So fürchtet Alice aufgrund ihrer Unfruchtbarkeit um Sarkis‘ Liebe und Politikerin Rosa zweifelt angesichts der Streitigkeiten ihrer Wähler*innen, ob sie erneut kandidieren soll. Die als Rosas reales Vorbild dienende Bürgermeisterin Michèle Rubirola zog sich nicht aus amourösen, sondern gesundheitlichen Gründen aus der Politik zurück. Dass Guédiguian ihr stattdessen eine Liebelei andichtet und impliziert, eine traditionelle Paarbeziehung sei für eine Frau erfüllender als eine politische Karriere, zeigt exemplarisch die inszenatorische Verknüpfung von Kitsch, Klischees und Konformismus.
Von der Lebensnähe, die ein Nachrichten-Prolog und die Inspiration der Protagonistin durch Marseilles erste Bürgermeisterin suggerieren, ist Robert Guédiguians adrettes Quartier-Bild weit entfernt. Die späte Romanze der Heldin entwickelt sich vor dem Hintergrund einer lokalen Liebeserklärung an den bedeutsamen Schauplatz. Obwohl die ungelenke Optik nicht über Vorabend-TV hinauskommt, hat die Dramaturgische Konstellation Charme. Der dient jedoch dazu, die sozialpolitische und strukturelle Problematik, die sich an dieses Quartier knüpft, zu überdecken. Den bitteren Beigeschmack kaschiert selbst Ariane Ascarides elegantes Schauspiel nicht.
- OT: Et la fête continue!
- Director: Robert Guédiguian
- Year: 2023