Dass Stars in Estlands vor-winterlicher Hauptstadt nicht zu sehen sind und die Blitzlicht-Gewitter von Cannes oder Venedig weit weg scheint, liegt schon im Namen des sternschnuppenartigen Aufsteigers. Gegründet Mitte der 90er, als Film Festivals aus dem Boden schossen, schaffte es das PÖFF, so die gängige Kurzform, zum 20. Jubiläum in die A-Liste und etablierte sich als größtes Film-Event des Baltikums. Dass die rund 80.000 Besuchenden vor Ort kaum sichtbar scheinen – keine Schlangen an den Kinokassen, keine Menschentrauben um die Kinos und ausverkaufte Vorführungen sind anscheinend die Ausnahme – liegt auch an der enormen Masse an Filmen. Davon gibt es jedes Jahr mehr.
Die 28. Ausgabe des Festivals, das am 24. November nach 17 Tagen zu Ende ging, übertraf mit an die 600 Filmen den Vorjahres-Rekord von 551 Filmen. Zwar zählen dazu auch die rund 350 Kurzfilme, aber was bleibt ist dennoch mehr als die Programme von Venedig und Cannes zusammen. Einzig die Berlinale kommt mit den ca. 200 Filmen der 74. Ausgabe, die den Overkill des Vorjahres (287 Filme) immerhin etwas reduzierte. Ob die neue Leitung den kleinen Fortschritt ausbaut oder revidiert, wird sich zeigen. Tallinn jedenfalls lässt sich von den Fehlern anderer nicht beeinflussen. Festival-Direktorin Tiina Lokk hatte andere Sorgen.
Jene gelten der Zensur. “I don’t want censorship. Maybe it is because of my Soviet past, but I am very strong on this. If we open this Pandora’s box, we cannot manage.”, sagte Lokk, die das Festival seit dessen drittem Jahr begleitet und prägte in einem Interview, mit Verweis auf Russland. Dessen weitreichender Einfluss war selbst in Venedig zu spüren, wo Rusudan Glurjidzes Historienfilms The Antique mittels einer Klage blockiert wurde. Obschon die Tragikomödie um die Deportation georgischer Bürger*innen aus Russland im Jahr 2006 kurz vor Ende der Mostra doch noch lief, zeigt der Vorfall alarmierend die Berechtigung Lokks Bedenken.
Sie selbst nannte Anastasia Trofimovas Dokumentarfilm Russians At War, dessen TIFF-Premiere nach Vorwürfen pro-russischer Propaganda sowie Drohungen gegen Festival-Mitwirkende unterbunden wurde. Dass sie sich bei der Zusammenstellung des diesjährigen Programms gegen Trofimovas Film entschied, zeigt umso deutlicher, dass es hier um eine Grundsatzfrage geht: “Festivals should have the freedom to put together the programme they would like to see.” Die Bekundung, dass PÖFF sei „kein politisches Festival“ wirkt angesichts dessen eigenwillig. Denn was ist die Verteidigung institutioneller und künstlerischer Unabhängigkeit entgegen äußeren Drucks, wenn nicht politisch? Die Unausweichlichkeit des Politischen zeigte anschaulich die Kontroverse um Boris Guts Wettbewerbsfilm Deaf Lovers.
Die allegorische Geschichte einer jungen Ukrainerin und eines jungen Russen, die sich in Istanbul in eine Affäre stürzen, war ursprünglich Teil der Sektion „Standing with Ukraine“, aus der er nach Beschwerden der Ukrainischen Staatlichen Film-Agentur entfernt wurde. Trotz der abschließenden Aussage, dass „heute alle wieder Freunde“ seien, erinnert der Schatten des Konflikts daran, dass mit viel Erfolg und vielen Filmen auch viel Verantwortung kommt. Der Freiraum, der sich in Tallinn dafür für klare Statements gegen die Kriegsverbrechen Israels in Gaza bot, wäre so in Berlin kaum denkbar. Ein Kontrast, der die absolute Freiheit von äußerer Beeinflussung und strategischer Konsens als illusionär enthüllt.
Und die Preisträger*innen? Wären fast untergegangen in der Filmflut, deren Unterteilung in 45 verschiedenen Sektionen kaum Übersicht bringt. Zudem fallen im Übermaß fallen Abwesenheiten umso deutlicher auf. Die äthiopische Co-Produktion Made in Ethiopia, die atmosphärische ägyptische Fabel Perfumed With Mint sowie der südafrikanische Kurzfilm Selah verwiesen eine unter A-List-Festivals bedrückend üblichen Mangel. Gerade für ein junges Festival ist ein immer noch nach binären Gender-Konzepten vergebener Schauspiel-Preis bedrückend gestrig. Wie gesagt, das Politische lässt sich nicht einfach aussperren. Es wächst mit der Bedeutung des Festivals genau wie Konfliktstoff mit der Zahl der Filmbeiträge. Das ist keineswegs negativ – nur, man es negiert.