„Jeder Idiot kann Bilder machen. Kunst zu machen ist schwer“, sagt eine Lehrerin dem jungen Hauptcharakter, den Richard Linklater über 10 Jahre während des titularen Lebensabschnitts beobachtet. Ein Rat, dem der Regisseur besser selbst gefolgt wäre. Doch Linklater ignoriert beharrlich die abgenutzten Weisheiten, die er den Protagonisten auf ihrem Weg mitgibt. Es ist ein langer Weg, ein sehr langer. Dies gilt für den Film wie für die Inszenierung. Sie begann 2002 damit, dass der 7-jährige Mason (Ellar Coltrane) und seine dickköpfige Schwester Samantha (Lorelei Linklater, die kalkuliert besetzte Tochter des Regisseurs) nach Houston ziehen. Ihre alleinerziehende Mutter Olivia (Patricia Arquette) will dort nahe der Großmutter Studium, Finanzen und Familienfragen besser auf die Reihe zu kriegen. Diese indirekte Schutzsuche in der Nähe der Eltern macht mit ein bisschen Küchenpsychologie offenbar, dass Olivia innerlich genauso unvorbereitet für das Erwachsenendasein ist wie der sporadisch auftauchende Vater Mason, Sr. (Ethan Hawke).
Er klammert sich weiterhin an seine Illusionen von einer Karriere als Musiker; eine künstlerische Ambition, die sich Jahre später in den photografischen Gehversuchen seines Sohnes widerspiegelt. Die Parallelen, die der episodische Plot zwischen Einst und Jetzt zieht, sind so offenkundig, dass es ihre Signifikanz untergräbt statt unterstreicht. So banal ist die Entwicklung der Geschichte und ihrer Figuren, dass alles vermeintlich psychologisch Angebahnte ebenso gut reiner Zufall sein könnte. Die Belanglosigkeit des filmischen Familienalbums voll sentimentaler, intimer und, da dies in keiner dramatisierten Dia-Show fehlen darf, melancholischer Aufnahmen findet ihr adäquates Pendant in den turnusmäßig eingeworfenen pop-kulturellen Trivia. Wichtiger als ihre Funktion als chronologische Marksteine ist die als Identifikationsköder. Der erste Band „Harry Potter“, den die Mutter vorliest, führt dazu, dass alle schließlich um Mitternacht Schlange stehen, um einen der Folgebände zu erwerben. Weil es in der Welt da draußen noch ernstere Auseinandersetzungen gab als die des Zauberschülers, fallen bisweilen ein paar Worte über den Irak-Krieg. Ansonsten läuft Coldplay und irgendwann sogar Goytes „Somebody that I used to know“.
Der Pop-Hit ist symptomatisch für Linklaters panische Angst, einen einzigen Kinozuschauer zeitgeschichtlich zu überfordern. Mit dieser Strategie sichert sich der Filmemacher, der bereits in seiner Before-Trilogie die Sperenzien der weißen Mittelschicht romantisierte, zumindest Nostalgie-Punkte beiden Zuschauern, die sich im Dunkeln zuraunen dürfen: “Oh klar, erinnerst du dich noch wie damals…?“ Um fast drei Stunden Laufzeit auszufüllen, genügen derartige Beiläufigkeiten genauso wenig wie die Alltäglichkeiten des Plots. Dass ein solcher nicht völlig unerheblich ist, hat Linklater vor Vernarrtheit in sein Projekt, das sich als zweitlängstes des Wettbewerbs zwischen Lars von Triers Nymphomaniac mit 145 Minuten und Die Geliebten Schwestern Dominik Grafs mit 170 Minuten behauptet, anscheinend vergessen. Das passiert schon mal auf einem so fest getretenen Weg. Wenn er das Ziel war, ist Linklater immerhin angekommen – wenn auch andere längst vor ihm dort waren. Michael Apteds Doku-Serie Up, Francois Truffauts fiktionale Biographie seines alter egos Antoine Doinel in fünf Spielfilmen über 20 Jahre befassen sich ungleich ergiebiger mit der Unbeständigkeit des Status Quo und der Vergänglichkeit der Jugend.
Gefühlt dauert das Prestigewerk noch länger als sein Dreh. Anstelle eines Sinnierens über Zeit weckt es höchstens denWunsch, die eigene besser zu verwenden als auf diesen Film. Darum ist auch diese Kritik hier zu Ende. Boyhood hat schon genug Zeit gekostet.
- OT: Boyhood
- Regie: Richard Linklater
- Drehbuch: Richard Linklater
- Produktionsland: USA
- Jahr: 2014
- Laufzeit: 165 min.
- Cast: Ellar Coltrane, Patricia Arquette, Ethan Hawke, Tamara Jolaine, Nick Krause, Jordan Howard, Evie Thompson, Sam Dillon
- Kinostart: 05.06.2014
- Beitragsbild © Berlinale