Vielleicht war es am Ende Glück für Luca Guadagnino, dass sein mit Spannung erwarteter Challengers nicht wie vorgesehen die 80. Ausgabe der Filmfestspiele von Venedig eröffnete. Sein Drama wäre womöglich ein Highlight des handwerklich und dramaturgisch von Mittelmaß dominierten Wettbewerbs gewesen, aber auch in fragwürdiger Gesellschaft für den Regisseur. Der solidarisierte sich noch im Juli mit anderen führenden Filmschaffenden wie Paolo Sorrentino, Alice Rohrwacher und Matteo Garrone mit Studierenden der Centro Sperimentale School im Protest gegen die geplante Vereinnahmung der weltbekannten Institution durch Italiens Rechts-Regierung. Deren Agenda, die Gerüchten zufolge Biennale-Leiter Roberto Cicutto durch Rechts-Polemiker Pietrangelo Buttafuoco zu ersetzen vorsieht, Italiens Museen von Italienern geleitet und „cancel culture“ und Ikonoklasmus unter Strafe, schien deutlich spürbar.
So waren sechs der 23 um den Goldenen Löwen konkurrierenden Titel italienische Produktionen, die wie Edoardo De Angelis Ersatz-Eröffnungsfilm Comandante, Stefano Sollimas Gangsterdrama Adagio oder Saverio Costanzos Cinecitta-Collage Finally Dawn reaktionäre Positionen vertraten. Unter den 24 Regieführenden waren lediglich fünf weiblich, darunter Ava DuVernay mit ihrer Sachbuch-Adaption Origin die einzige BIPOC. Afrika und die afrikanische Diaspora waren überhaupt nicht vertreten. Am Lido atmen nicht nur die brutalistischen Bauten das Air einer düsteren Vergangenheit. Dass mit Woody Allen, Roman Polanski und Luc Besson gleich drei berüchtigten Regisseuren die Festival-Bühne geboten wurde, ist ein klares kulturpolitisches Signal. Die Proteste dagegen wurden im Sinne der oben erwähnten Leitlinien umgehend von der Polizei aufgebrochen.
Dementsprechend kommentierte Allen zynisch, doch treffend, er wüsste nichtmal „was es bedeutet, ‚gecancelt‘ zu werden“. Verständlich, erhielt doch seine belanglose Krimi-Komödie Coup de Chance schon vor der ersten Szenen demonstrativen Applaus. Diese Bias zugunsten solcher Prominenter unterstreicht, dass die Befürworter deren Unantastbarkeit die mantramäßig angeführte „Trennung von Werk und Autor“ selbst nicht vollziehen. Jedenfalls scheint undenkbar, dass unbekannte Filmschaffende mit einer verstaubten Posse wie Roman Planskis außer Konkurrenz gezeigtem The Palace oder Bessons Hunde-Vigilanten-Story DogMan auch nur in die Nebensektionen kämen. Dafür suggeriert die konservative Kongruenz des Filmprogramms, welches der Streik laut des künstlerischen Leiters Alberto Barbera abgesehen von Gudagninos Film kaum beeinflusste, eine Voreinstellung auf das sich wandelnde Politklima.
Michel Franco diskreditiert in Memory Missbrauchs-Anschuldigungen seitens einer Frau als so unzuverlässig wie das Erinnerungsvermögen Demenz-Kranker. Michael Manns Ferrari erhebt Automobil-Legende Enzo Ferrari zum professionell, intellektuell und sexuell omnipotenten Genius eines nostalgisch verbrämten Vintage-Italiens. Und Liliana Cavanis Wohlstandsfiguren in The Order of Time schwärmen in Zeiten von Klimakatastrophe, Krieg und Fundamentalismus, wie schön das Leben doch sei. Diese Symbiose von Reaktionismus und elitärer Apathie prägt nicht nur auf der Leinwand die, laut Barbera, „Aristokratie der Festivals“. Die Exklusivität ist hier keine künstlerisch, wie ein eher belangloser Film-Jahrgang zeigt, sondern eine von Gender, Ethnie und Klasse. Dies schafft ein Klima, in dem privilegierte Perspektiven von Filmschaffenden, Publikum und Presse einander beständig gegenseitig bestätigen und bestärken.
Auch wenn der SAG-AFTRA-Streik eine durch ein System aufgebaut auf un- und unterbezahlter Arbeit ans Limit gedrängten Arbeiterklasse betrifft, zeigt er, wo es hinführt, wenn der altväterliche Adel diejenigen außerhalb des elitären Elfenbeinturms dauerhaft ignoriert. Die Beteuerungen, dass der durch die Abwesenheit von Stars wie Michael Fassbender, Ben Kingsley, Dev Patel, Penelope Cruz und Emma Stone, Hauptdarstellerin Yorgos Lanthimos vorhersehbaren Gewinners Poor Things, spürbare Konflikt das Festival kaum beträfe sowie die symbolkräftige Solidarisierung mit Polanski, Allen und Besson unterstreicht dessen Negation jeglicher Verantwortung innerhalb des Systems. In Venedig wird deutlich, was sich auch in Cannes und auf der Berlinale manifestiert: Die kollektive Kinoerfahrung überbrückt soziale Gräben nicht mehr, sondern betont sie. Im Guten wie im Schlechten.