In Retrospektive schien es fast unvermeidlich, dass der Goldene Löwe an Pedro Almodóvar – zum vierten Mal Gast am Lido, wo er erst 2021 Parallel Mothers im Wettbewerb präsentierte und 2019 für sein Lebenswerk geehrt wurde – mit The Room Next Door ging. Nicht aufgrund der Qualitäten, sondern weil er den diesjährigen Wettbewerb quintessenziell repräsentierte. Basieren auf Sigrid Nunez What Are You Going Through? ist eine von neun Roman-Adaptionen. Es ist ist inszeniert von einem der alten weißen Männer wie Pablo Larraín, Todd Phillips, Gianni Amelio, Luca Guadagnino und Dag Johan Haugerud, die den Wettbewerb beherrschten, und obendrein Bühne für große Schauspielerinnen.
Tilda Swinton und Julianne Moore erhielten indes nicht den Goldenen Löwen, den die Biennale immer noch in binäre Gender-Kategorien unterteilt. Als eine Hauptanwärterin neben Angelina Jolie in Larraíns Callas-Biopic Maria, Fernanda Torres in Walter Salles Familienporträt I‘m Still Here und Ia Sukhitashvili in Dea Kulumbegashvilis April gewann Nicole Kidman. Eine melancholische Würdigung für die Schauspielerin, die ein Trauerfall in engster Familie umgehend wieder abreisen ließ. Die Trophäe empfing stellvertretend Halina Reijn. Deren Soft-Sex-Drama Babygirl war unter 22 Wettbewerbsfilmen von 24 Filmschaffenden einer von nur fünf unter weiblicher Regie. Seitens des Festivals und seines künstlerischen Leiters Alberto Barbera ein klares politisches Signal.
Nicht das einzige. Noch eklatanter war die Abwesenheit der Werke Schwarzer Filmschaffender in der wichtigsten Sektion, die zudem keinen einzigen Film aus einem afrikanischen Land enthielt. Ist das bereits der Einfluss des von Italiens rechts-nationalistischer Staatschefin Giorgia Meloni im vergangenen Jahr zum Biennale-Leiter ernannten Pietrangelo Buttafuoco? Der Rechtspopulist pries jedenfalls sein Einvernehmen mit Barbera, und kündigte an, „diese Saison werden die Zäune niedergerissen“. Das bedeutet wohl, dass neben Reaktionismus, Sexismus und Chauvinismus nun auch faschistoide Ideologien nun offen beklatscht werden. Repräsentativ dafür wirkt Joe Wrights pompöses Mussolini-Biopic M. Son of the Century, mehr Ikonographie statt Kritik des Begründers des Faschismus.
Es ist fast ein back to the roots for das weltweit älteste Filmfestival, das 1932 von Mussolinis vormaligem Finanzminister und faschistischem Parteimitglied Giuseppe Volpi gegründet wurde. Volpis Name trägt bis heute der Coppa Volpi für die Beste Darstellerin und den Besten Darsteller. Zweiter ging dieses Jahr übrigens an Vincent Lindon in The Quiet Son für den Part eines besorgten Vaters, dessen Sohn unaufhaltsam in rechtsradikale Kreise versinkt. Ob das ein indirektes Dementi extremistischer Sympathien ist, Häme oder schlicht ein Zeichen totaler Apathie gegenüber alarmierenden politischen Entwicklungen. Letztes ist wahrscheinlich angesichts der Passivität des Festivals gegenüber der Attacke auf Rusudan Glurjidzes The Antique.
Die Vorführung des georgischen Historiendramas, das die gewaltsame Ausweisung georgischer Mitbürger*innen aus Russland thematisiert, wurde mit offensichtlich politischen Motiven juristisch blockiert. Das Festival, das sich letztes Jahr überschlug, um dem mutmaßlichen Pädophilen Woody Allen den Blick auf Protestschriften zu ersparen, blieb tatenlos. Ein Schweigen, das ähnlich laut nachhallt wie der Mangel von BIPOC Filmschaffender oder, dass die wenigen Wettbewerbsfilme von Regisseurinnen auffällig konservative Tendenzen teilten – ausgenommen Athina Rachel Tsangaris Harvest, der keinen einzigen Preis erhielt. Leerstellen sagen manchmal mehr aus als Festlegungen. Wie Buttafuocos Aussage: „Ich bin kein Faschist. Ich bin etwas anderes.“ Was, das lässt sich bereist unschön erahnen.