War es Ironie oder Sarkasmus, dass die Jury unter Vorstand von Alexander Payne in einem Jahrgang mit bemerkenswert vielen prägnanten Filmen – im guten oder schlechten Sinne – den Goldenen Löwen dem einzigen gab, der banales Mittelmaß ablieferte? Jim Jarmuschs Father Mother Sister Brother ist die Art Konsens-Film, der in einem Jahr voller uninteressanter Durchschnittswerke den Hauptpreis kriegt, weil er irgendwo aneckt und der Regisseur irgendwann früher mal gut war. Aber in einem Jahr mit einer beachtlichen Reihe an Filmen mit klarer politischer Message oder Tendenz ist ein solcher Preisträger ein deutliches Signal zur Abkehr von politisch und sozial relevantem Kino.
Es ist Ausdruck eines wohlstands- und sicherheitsverwöhnten Anspruchs auf Abschirmung von all den ach so lästigen Themen und Tatsachen, die das Festival krampfhaft auszublenden versuchte. An erster Stelle der Genozid in Gaza, den der offene Brief und eine tausende Demonstrierende anziehende Protestaktion der Organisation Venice4Palestine ins Bewusstsein der Besuchenden rückte. Die Relation des Festival-Betriebs zu den Verbrechen gegen die palästinensische Bevölkerung zeigt sich auf bedrückende Weise in der Auszeichnung Kaouther Ben Hanias Doku-Thriller-Hybrid The Voice of Hind Rajab. Die Verfilmung des Notruf-Eingangs eines in Gaza von der israelischen Armee unter Beschuss genommenen kleinen Mädchens bei der palästinensischen setzt die Originalaufnahme des Anrufs ein.
Der reale Schrecken und Schmerz einer 5-Jährigen kurz vor ihrem Tod wird zum inszenatorischen Stilmittel, um das Kinopublikum am Lido zu unterhalten. Dass darauf nicht mit Buhs reagiert wird, sondern Applaus, sagt alles über die Mentalität eines Publikums, das sein Bedürfnis nach Entertainment als absolut begreift. Letzte Zweifel daran beseitigt Paynes Antwort auf die Frage nach seiner Haltung zu Gaza: „I‘m unprepared for that question.“ Dagegen wirkten die anderen politischen Brennpunkt fast ruhig. Luca Guadagnino befeuerte mit After the Hunt das rechts-populistische Zetern über „Cancel-Culture“, gerade so, als ob Venedig nicht in den letzten Jahren berüchtigte Täter beklatscht und beworben hätte.
Olivier Assayas stilisierte Putin und die Strippenzieher des Kreml zu sympathischen Schelmen. Kathryn Bigelow, die aus ihrem Einsatz für republikanische Grundsätze eine erfolgreiche Kinokarriere gemacht hat, lieferte mit A House of Dynamite eine inszenatorisch makellos verpackte Legitimation von Trumps Nuklear- und Irak-Politik. Yorgos Lanthimos spielte in Bugonia mit Alt-Right-Radikalisierung und Paolo Sorrentino mit La Grazia eine Elegie für christlich-konservative alte weiße Staatsmänner. Venedig war schon immer eine Hochburg der rechts-reaktionären Elite, aber selten war diese so erschlagend spürbar wie in diesem Jahr. Die liberalen Stimmen am Rand blieben dagegen fast übersehen, wie Laura Poitras Doku Cover-up über die Unverzichtbarkeit unabhängiger Presse.
Oder Gus van Sants famose Crime-Comedy Dead Man‘s Wire, die einen skrupellosen Imperialismus an sein Opfer knüpft. Doch solche Werke sind Ausnahmen unter der Leitung Alberto Barberas, der mit dem seit 2023 installierten rechts-populistischen Biennale-Leiter Pietrangelo Buttafuoco augenscheinlich ein Einvernehmen gefunden hat. Gerüchte über den Austausch des längstamtierenden aller Mostra-Direktoren sind verklungen. Filmisch können die Buttafuoco und Barbera ohnehin nicht allzu auseinanderliegen. Das jedenfalls ist das zwiespältige Fazit der 82. Ausgabe, deren Haltung zur Filmpresse ein apokalyptischer Starkregenguss illustrierte. Da – und nur da – wurde ausnahmsweise das Kino erst 20 Minuten verspätet geöffnet. Nur um sicherzugehen, dass alle komplett durchnässt sind.