Mit seinem Hang zu humoristischen Spitzen, Melodrama und Edelkitsch ist François Ozon ein denkbar unwahrscheinlicher Regiekandidat für Albert Camus nihilistische Novelle. So werden deren strukturelle Strenge, emotionale Distanz und pessimistische Philosophie wenig überraschend zu ästhetisierten Gesten in seiner stilisierten Romanadaption. Jene vibriert von Ozons spürbarer Faszination für den apathischen Antihelden und schillernden Schauplatz. Das französisch besetzte Algiers der 30er verklärt ein touristischer Kino-Spot der Ära als exotisches Abenteuer für wohlhabende Europäer. Das verzerrte Ausklingen der paternalistischen Reklame impliziert sowohl eine kritische Reflexion der kolonialistischen Gewaltherrschaft als auch deren bevorstehendes Ende.
Die gärende Gewalt mischt sich in die unterliegende Spannung der Schwarz-Weißen-Szenerie, in der Benjamin Voisins Titelcharakter den sozialpathologischen Zerfall verkörpert. Der junge Büroangestellte Meursault ist nicht nur regional und ethnisch fremd, sondern entfremdet von seinen Mitmenschen und sich selbst. Seine daraus resultierende Loslösung von den gesellschaftlichen Geboten der Bourgeoisie, der er angehört, wird ihm zum Verhängnis. Mehr noch als der Mord an einem jungen arabischen Mann, den er bei seinem ersten filmischen Auftritt im Gefängnis freimütig gesteht. Die Ereignisse bis zu dieser Tat und deren Konsequenzen zeigt eine umfassende Rückblende.
Obwohl nah an der Buchvorlage, ersetzt die Haupthandlung deren nüchternen Tonfall ersetzt eine Atmosphäre ominöser Vorahnung und lauernder Gefahr, die mit der Hitze in der Luft flirrt. Die Nachricht vom Tod seiner Mutter (Mireille Perrier) lässt Meursault ebenso kalt wie seine Affäre mit Marie (Rebecca Marder). Die rein physische Komponente der Beziehung impliziert der lüsterne Kamerablick. Zwischenmenschliche Nähe ist in den markanten Kulissen egoistisch, roh und gelenkt von sinnloser Grausamkeit. Meursaults alter Nachbar Salamano (Denis Lavant) quält seinen Hund, sein sadistischer Kumpan Raymond (Pierre Lottin) misshandelt seine algerische Geliebte Djemila (Hajar Bouzaouit).
Diese Parallelen füge sich zu einem gesellschaftlichen Grundgerüst, das gerade aufgrund seiner Gewalttätigkeit sentimentale Staffage einfordert. Meursaults Unfähigkeit zu sozialer Performance macht ihn zum Marker ethischer Abstumpfung, der als solcher beseitigt werden muss. Fatima Al Qadiris Ambiente-Sound unterstreicht die kulturelle Konflikte und den in szenischen Details referierten politischen Kontext. Kameramann Manu Dacosses sonnengeflutete Straßenzüge Algiers, karge Landschaften und enge Gassen wirken zugleich lockend und beklemmend. Die fotographische Statik der Bilder betont die Ikonographie der archetypischen Charaktere ebenso wie ihre psychologische Rigidität. Harte Licht-Schatten-Kontraste verweisen auf die sozialen, psychischen und emotionalen Gegenpole der fatalistischen Parabel.
Formell ein Drama mit kriminalistischem Impuls wagt sich François Ozons dezent modernisierte Interpretation nie an den psychopathologischen Abgrund Camus’ existenzieller Leere. Kritik am bürgerlichen Rechtssystem, kolonialistischer Repression und xenophober Konstrukte sind die stärksten Eigenschaften einer stilsicheren Charakterstudie. Markant verkörpert von Voisin, bleibt Meursault ein verkappter Soziopath, in dem die Abgründe bourgeoiser und kolonialer Ordnungskonzepten kulminieren. Sparsam, wortkarg und distanziert folgt die Inszenierung Camus radikal restriktiver Konstruktion, die visuelle Akzente und punktuelle Ergänzungen aufbrechen. Dass sich gerade hier die perspektivische Beschränkung des Regisseurs offenbart, gibt der ambitionierten Adaption eine unfreiwillige, aber dennoch interessante filmpolitische Facette.
- OT: L’etranger
- Director: François Ozon
- Year: 2025