Die Mischung aus sensationalistischem Kalkül, einer ebenso grausamen wie schmerzlichen realen Grundlage und spekulativer Ausbeutung, die bereits Kaouther Ben Hanias dokumentarisches Debüt gleichermaßen effektiv und problematisch machte, verfeinert die Regisseurin und Drehbuchautorin in ihrem zweiten Werk. Der doku-dramatische Hybrid rekonstruiert nahezu in Echtzeit die letzten Stunden der fünfjährigen Palästinenserin Hind Rajab, deren Familie im Auto in Gaza von der israelischen Armee beschossen wird. Gefangen im Auto zwischen Ihren ermordeten Verwandten wird das kleine Mädchen schließlich selbst Opfern militärischen Mords.
Diesen rekapituliert die mit dokumentarischem Naturalismus eingefangene Handlung nahezu in Echtzeit. Am 28. Januar 2024 kontaktiert die kleine Hind den Notdienst. Unter wachsendem Zeitdruck versuchen Notruf-Mitarbeiter Omar (Mdotaz Malhees) und seine Kolleg*innen dem verängstigten Mädchen einen Krankenwagen zur Bergung zu schicken. Verpasste Anrufe, Omars in ihrer Emotionalität unprofessionelle Reaktion und umständliche Diskussionen unter den Mitarbeitenden des Roten Halbmonds lassen kostbare Minuten verstreichen. Die Szenen innerhalb der Notruf-Zentrale sind inszeniert, die kindliche Stimme vom Tonband ist es nicht.
Ihre erstickte Panik ist real und erschreckend greifbar. Das hindert die Regisseurin nicht, sie zum Instrument dramatischer Suspense und emotionaler Manipulation zu reduzieren. Bemühtes Schauspiel und forcierte Dialoge stehen in zynischem Widerspruch zu der authentischen 70-minütigen Audio-Spur Hinds Anrufs. Den spielt Ben Hania in voller Länge ab und aus, begierig, ihre konzeptionelle Trumpfkarte zu maximaler Wirkung einzusetzen. Das sterile Beige und Weiß der Notruf-Zentrale wird in seiner sterilen Kulissenhaftigkeit und Profanität zum fiktiven Filter realen Grauens in kommerzielles Unterhaltungskino.
Eine politische Positionierung und ideologische Kritik sind auffällig abwesend in den kammerspielartigen Szenario. Pathetischer Soundtrack, die steigende Hektik der Schnitte und hitzige Diskussionen des Notdienst-Teams über eigenmächtige Intervention oder Vorgehen nach Protokoll schaffen die artifizielle Suspense eines generischen Kriegs-Thrillers. Dessen dramaturgischem Formalismus, plakativer Psychologie und emotionaler Seichtheit gibt das verstörende Original-Dokument eine unverdiente Wucht: Instant-Intensität zum Preis menschlichen Respekts. Unfreiwillig wird die hilflose Frustration der Notruf-Crew über ihre Entfernung zum Ort des Geschehens zum Spiegel der dramaturgischen Irritation des Publikums.
Nur Archiv-Fotos erinnern a die reale Titelfigur Kaouther Ben Hanias problematischen Doku-Dramas, das im Wettbewerb von Venedig den Großen Preis der Jury erhielt. Der Titel wird zum zynischen Verweis auf die kalkulatorische Entmenschlichung des kleinen Mädchens – eines der 18.000 kindlichen Kriegsopfer in Gaza – zum manipulativen Stilmittel. Die pietätlose Inszenierung zieht ihre fragwürdige Wirkung aus der akustischen Alternative zu scheinmoralischer Schaulust. Hinter der Maske politischer Relevanz trivialisiert der Tearjerker-Thriller eine zutiefst verstörende Gewalttat und den realen Horror des Genozids zur medialen Konsumware.
- OT: The Voice of Hind Rajab
- Director: Kaouther ben Hania
- Year: 2025