Der Titel Laura Poitras brennend aktueller Doku, die außer Konkurrenz in Venedig Premiere feiert und in Toronto und New York im Festival-Kalender fest verankert ist, fungiert als konfrontativer Gegenpol der filmischen Zielsetzung. Jene ist das Aufzeigen der essenziellen Rolle einer freien Presse und eines unabhängigen Investigativ-Journalismus für eine funktionierende Demokratie. Ohne diese aufklärerische Kraft ist Vertuschung ein Grundzustand. In einer anti-journalistischen Ära bestätigen Fake News, rechte Kampfbegriffe wie „Lügenpresse“ und rechtskonservative Rufen nach einer „Medienerziehung“, die der jungen Generation eigenständiges Denken abgewöhnt, bedeckend die Dringlichkeit Poitras formativen Porträts.
Jenes rekonstruiert die Laufbahn eines der bedeutendsten Investigativ-Reporter der USA. Seymour Hershs Name und Wirken sind in Europa hinlänglich bekannt – anders seine Person. Der widmen Poitras und ihr Co-Regisseur Mark Obenhaus ebenso viel Aufmerksamkeit wie seinen einflussreichsten Berichten. Die erscheinen längst nicht mehr in Print-Medien wie The New Yorker oder der Times, sondern als eigenständige Publikation auf Substack. Getrieben von Maya Shenfelds magnetisierendem Score und Schreibmaschinen-Rattern, verwebt die präzise Inszenierung Vergangenheit und Gegenwart zu einem dichten Netzwerk faszinierender Fälle.
Der Sog historischer Unausweichlichkeit zieht sich durch die Original-Dokumente, Interview-Aufnahmen und Archivbildern von CIA-Spionage, den Krieg gegen den Terror, Irak und Konzernintrigen. Bob Woodward erinnert sich, wie Hershs Artikel einst Unterstützung boten, als er mit Carl Bernstein nahezu allein gegen die den Watergate-Skandal aufdeckte. Das Szenario taucht direkt in seine Enthüllungen: vom Nervengas-Skandal in Utah, wo die Regierung sterbende Schafe und kranke Menschen verleugnete, bis zu den Leichenbergen in Vietnam. Nixon hielt ihn für einen kommunistischen Agenten, dennoch beendeten seine Berichte das Programm biologischer Kriegsführung.
Als unerbittlicher Chronist macht Hersh von My Lai bis Gaza den Abgrund staatlicher Gewalt sichtbar. Mit 88 Jahren führt er weiter Gespräche mit anonymen Quellen, während seine Enthüllungen in aktuellen Ereignissen nachhallen. Eine klare Bildsprache geprägt von kontrollierter Komposition,’bringt formale Ordnung ins geheimdienstliche Dunkel. Der Einsatz von Archivmaterial, darunter handschriftliche Notizen, Primärmaterial und O-Tonaufnahmen, sowie die Gespräche mit Hersh in seinem analogen Arbeitsumfeld, geben der packenden Profilierung greifbare Authentizität. Atmosphärische Montage schafft einen persönlichen und dennoch sachlich distanzierten Einblick in Denk- und Arbeitsprozess des Protagonisten.
Er recherchierte Jahrzehnte lang unter enormen Risiken gegen ein korruptes System. Im zweiten Teil verliert der filmische Fokus indes an Schärfe angesichts jüngerer Ereignisse. Gefälschte Briefe Marilyn Monroes, die er bei seiner Kennedy-Recherche begegneten, werden nur angedeutet. Das unterkühlte Echo auf „The Dark Side of Camelot“ bleibt unerwähnt, obwohl es seine Rolle als autarken Außenseiter beleuchtet hätte. Standhaft bleibt Hersh bei seinem Bericht über die Sabotage der Nord-Stream-Pipelines, als die Regisseurin nachhakt. Seine Antworten mögen bisweilen nach Starrsinn klingen, doch sein Schaffen verleiht ihnen unbestreitbares Gewicht.
Die herbe Lektion Laura Poitras faszinierender Karriere-Chronik ist die Anfeindung und Verhöhnung, die eine politisch wache Berichterstattung oftmals trifft. In Zeiten, in denen Wahrheit und Meinung zunehmend austauschbar scheinen, ist fundierte Skepsis ein elementares Gut. Die dokumentarische Relevanz geht weiter als die eines energischen Appells für journalistische Courage und die Notwendigkeit einer Gegenposition zum politischen Establishment. Mit seiner Masse archivarischen Beweismaterials ist die Union von Chronik und Charakterbild ein bedrückendes Kompendium militärischer Verbrechen, politischer Korruption und imperialistischer Hybris: die bittere Kehrseite einer unilateralen Geschichtsschreibung, die Störfaktoren braucht.
- OT: Cover-up
- Director: Laura Poitras, Mark Obenhaus
- Year: 2025