Musik, Märchen und Memoire verschmelzen in Virgilio Villoresis verspielter Variation des Orpheus-Mythos zu einer formal facettenreichen Leinwand-Operette, so ätherisch und artifiziell wie ihre Settings. Letzte wirken charaktervoller als die menschlichen Figuren, allen voran der blasse Titelheld, der nichts von der eitlen Ambivalenz des mythischen Vorbilds an sich hat. In der aus der Antike in eine unbestimmte Moderne verlagerten Geschichte ist Orfeo (Luca Vergoni) ein zurückgezogener Pianist, den seit Kindertagen eine verlassene Villa gegenüber seiner Wohnung in ihren Bann geschlagen hat.
Bei einem Auftritt im schummerigen Nachtclub Polypus begegnet er der rätselhaften Eura (Giulia Maenza), zu der er eine seltsame Verbundenheit verspürt. Doch so plötzlich wie sie aufgetaucht ist, verschwindet die Fremde wieder, ausgerechnet in das geheimnisvolle Gebäude, das Orfeo nun aufsucht. Getrieben von unerklärlicher Sehnsucht durchstreift er den verwunschenen Ort voller magischer Motive und surrealer Symbole. Bedeutsamer als die diffuse narrative Funktion der Räume sind das Szenenbild selbst und dessen filmische Darstellung. Märchenillustrationen, Theaterkulissen, Opern-Bühnenbild und Zaubertricks inspirieren ein visuelles Varieté.
Mit kindlichem Staunen und Experimentierfreude schafft der Regisseur und Video-Künstler szenische Miniaturen zwischen melancholischer Grazie, morbider Eleganz und schwelgerischen Tagträumen. Kitsch und Kunsthandwerk gehen fließend ineinander über in diesem von tanzenden Möbeln, belebten Kleidungsstücken, magischen Spiegeln und bedrohlichen Wächtern bevölkerten Kosmos. In der verspielten Vielfalt liegt der eigentliche Reiz der dramaturgisch dünnen Story. Die haptischen Bilder einer 16-mm Bolex-Handkamera wechseln mit altmodischer Tricktechnik, Stop-Motion, Schattenspiel, Scherenschnitten, Animation und Überblendungen. Die Szenografie erinnert an ein lebendiges Bilderbuch, halb spät romantisches Kunstmärchen, halb avantgardistische Musik-Installation.
Angelo Trabaces Soundtrack lehnt sich an klassische Operetten-Klänge und mit Jazz- und Walzerakzenten. Tanz wird zum zauberkräftigen Element, das die Grenze zwischen Leben und Tod überwindet. Statt strenger Choreografien überwiegt beschwingte Spontanität. Diese Leichtigkeit kontrastiert mit der Düsterkeit des mythologischen Stoffs, dessen parabolisches und psychologisches Potenzial sich in sentimentalen Floskeln verliert. Orfeo und Eura sind in dieser puppenhausartigen Welt kaum mehr als belebte Marionetten, gleich denen sie durch das stilisierte Szenario wandeln. Gegenstände mögen belebt sein; die Protagonisten indes bleiben seltsam seelenlos.
Mit seiner übersprudelnden Begeisterung für klassische Tricktechnik, optische Illusionen und Bühnenkunst schöpft Virgilio Villoresis Langfilm-Debüt von einer tiefen Liebe zum Material und zur filmischen Handarbeit. Inspiriert von Dino Buzzatis „Poema a fumetti“ entwirft der Regisseur ein Traumkino, das bewusst keine lineare Erzählung anstrebt, sondern emotionalen Assoziationen folgt. Spiegeltricks, theatrale Kulissen und restauriertes Super-8-Archivmaterial fokussieren sich mehr auf das Spiel mit persönlichen Erinnerungen, Materialität und motivischen Variationen. Doch ohne narrative Erdung, prägnanten Figuren und dramaturgischer Substanz bleibt ein pittoresker Bilderbogen, gefangen in der eigenen Trickkiste.
- OT: Orfeo
- Director: Virgilio Villoresi
- Year: 2025