Man wird sie für eine Lepra-Kranke halten bis zum Tag ihres Todes, sagt die alte Dame auf der Veranda: „Und selbst nach meinem Tod wird man noch sagen: ‚Erinnerst du dich an diese Lepra-Kranke?‘“ Hinter dem Pragmatismus dieser Worte klingt Bitterkeit durch und Schmerz. Die Krankheit, deren Diagnose das Leben der Menschen in Callisto Mc Nultys dokumentarischen Diorama für immer veränderte, ist ein unauslöschliches soziales Stigma. Daran hat sich auch über 150 Jahre, nachdem das Pathogen von Gerhard Armauer Hansen entdeckt wurde.
Obwohl die Krankheit längst heilbar ist und entgegen der weit verbreiteten Angst kaum ansteckbar, weckt schon ihr Name schreckliche Assoziationen. Von streng abgegrenzten Kolonien, in denen Menschen mit entstellten Gesichtern und verstümmelten Gliedmaßen ein elendiges Dasein bis zum schmerzhaften Tod führen. Die Realität sieht zum Glück anders aus. Wobei anders nur bedingt besser bedeutet. Das zeigen die Lebensberichte der Patient*innen des Schauplatzes, an den die Regisseurin das Kinopublikum führt. Das im malerischen Laguar-Tal zwischen Pinienwäldchen gelegene Les Fontilles wurde 1909 von Jesuiten-Priester Carlos Ferrís eröffnet.
In der analogen Zeit war der Ort einzigartig in seinem Ansatz, Erkrankte nicht einfach möglichst weit von der Gesellschaft abzusondern, sondern ihnen eine heilsame, tröstende Umgebung zu schaffen. Doch auch dieser Humanismus hatte Grenzen. Diese symbolisiert die fast drei Meter hohe, dicke Mauer, die sich über drei Kilometer um die Kolonie windet. Ein Patient berichtet von in den Stein eingelassene Glasscherben und Wärtern. Damit niemand hinauskam. „Uns hier besuchen wollten die Leute nicht.“ Ihre Familien haben sie vergessen. Aus Angst vor dem Stigma wurden Angehörige totgeschwiegen.
Die Patient*innen waren zugleich Gefangene diese so trügerisch idyllischen Ortes, den sie mit dem Personal autark bewirtschafteten. Manche wurden doppelt eingesperrt, denn in der Kolonie gab es ein Gefängnis. Dorthin kam, wer jenseits der Mauer gegangen war. Und sei es nur für einen Spaziergang in der Welt draußen. Eine Patientin beschreibt sie als die Welt der Gesunden, in die sie aus der Welt der Kranken nie zurückkehren könne. In den zeitlosen Erkenntnissen über Metaphorik und Ethik von Krankheit liegt die Kraft dieser stimmungsvollen Skizze.
In bemerkenswert lyrischen Worten erwecken die Anwohnenden, Angestellten und Ärzt*innen, die Les Fontilles prägten und von ihm geprägt wurden, die Vergangenheit. Kummer und Freude, Mitgefühl und Grausamkeit, existieren nebeneinander an diesem spukhaften Schauplatz, den die Kamera ohne Scheu und Schaulust durchstreift. Die Zeugnisse seiner Bewohnenden, die zu den ruhigen, lichten Bildern aus dem Off klingen, sind die letzte Verbindung zu einer Welt, deren Paradoxa und Perversion in gegenwärtigen Medizin bedrückend präsent sind. Die einstündige Laufzeit ist viel zu wenig für diese geisterhafte Geschichtsstätte.
- OT: La Muraille
- Director: Callisto Mc Nulty
- Screenplay: Callisto Mc Nulty
- Year: 2025
- Distribution | Production © Alva Films