Welchen Platz hat Dokumentarfilm in einer Welt, in der die Frage, was wahr ist, verdrängt wird von der Frage, was Wahrheit ist? Welche filmischen Stimmen sind bedeutsam in einer Zeit, in der Religion und Reaktionismus mächtiger sind als Realität und Ratio? Worin liegt die Aufgabe eines Dokumentarfilm-Festivals in einer Gesellschaft, in der Ideologie und Ignoranz gefährlich an Macht gewinnen? Die 56. Ausgabe Visions du Réel kann diese Fragen nicht beantworten – auch Deshalb nicht, weil sie vor ihnen sichtlich zurückschreckt. Die Mehrheit der 154 Filme, die während der zehn Festival-Tage auf einer Handvoll Leinwände Nyons und des Nachbarorts Gland liefen, kennzeichnete ein individualistischer Fokus. So auch vier der fünf in den wichtigsten Kategorien ausgezeichneten Werke.
Der Grand Prize der International Feature Film Competition ging an Clarisa Navas Langzeit-Doku The Prince of Nanawa, über eine Kindheit an der argentinischen-paraguayischen Grenze. Eine Lobende Erwähnung gab es für Marie Voigniers Anamocot, der einen französischen Abenteurer auf der Suche nach einem kamerunischen Mythenwesen begleitet. Die zweitwichtigste Sektion Burning Lights, gewidmet neuartigen, freien und „abenteuerlichen“ Perspektiven des zeitgenössischen Dokumentarfilms, zeichnete Bani Khoshnoudis The Vanishing Point aus. Die persönliche Collage untersucht die Auswirkungen des Verschwinden eines Angehörigen während der 1988 Verfolgungen im Iran. Einzig der Special Prize der von Eliza Hittman angeleiteten Jury ging mit Casey Charters To Use a Mountain an ein Werk, das mit dem weitreichenden Fallout der Endlagerung des US-Atommülls einen umfassenden Ansatz wählte.
Der Publikumspreis krönte mit Sara Khakis und Mohammadreza Eynis Cutting Through Rocks über die erste Gemeinderäterin eines iranischen Provinzorts eine weiteres Lebensbild. Auffällig ist neben der Schwerpunktsetzung auf individualistische Beiträge die starke Präsenz von Autofiktion und Selbstdarstellung. In den besten Fällen wie Charlie Shakletons Zodiac Killer Project erscheint dieses Element bewusst und ironisch, in problematischeren wie Daniel Abmas Im Prinzip Familie oder Kaspar Astrup Schröders Dear Tomorrow untergräbt es die Authentizität. Paradoxerweise spiegelt diese subjektive Verzerrung indirekt eine Gegenwartsrealität, in der Exhibitionismus und Voyeurismus konkurrieren, Meinungen Fakten verdrängen und eklektische Einzelschicksale mehr Aufmerksamkeit finden als abstrahierte Massenschicksale. Diese deutliche Tendenz in filmischer Ausrichtung und Perspektive kontrastiert mit dem stilistischen Formenreichtum.
Die für dokumentarische Wahrhaftigkeit unerlässliche Diversität erreicht das Festival nur bedingt. Mit 57 vertretenen Nationen war die nationale Vielfalt höher als je zuvor. Dennoch bleiben Beiträge Schwarzer und asiatischer Filmschaffender vereinzelt. Der Anteil an Regisseurinnen ist relativ hoch, doch queere Beiträge haben Ausnahmecharakter. Die Perspektive gehandicapter Filmschaffender ist augenscheinlich überhaupt nicht vertreten. Kein einziger Beitrag vertritt die Perspektive der Unterschicht. Auch diese Muster entsprechen den strukturellen Schismen einer Welt, die global näher zusammenrückt und sozial weiter auseinander. Dokumentarfilm hat das Potenzial, die gesellschaftlichen Gräben zu überwinden. Doch gerade die Rezeption eines reinen Dokumentar-Programms verdeutlicht die Herausforderungen und Risiken der rasant wachsenden Filmgattung.
Dokumentarfilm ist eben nicht die Realität. Im diesjährigen Programm erinnern unter anderem Ultras, Little, Big and Far oder Fitting in – daran, dass auch das Dokumentarkino stets nur einen spezifischen, mitunter unilateralen, parteiischen oder manipulativen Blickwinkel amplifiziert. Das Resultat ist manchmal näher an filmischer Fiktion als einem Tatsachenbericht.