In der Eröffnungsszene Jasna Krajinovics dokumentarischen Coming-of-Age-Dramas fährt der junge Titelcharakter durch die Straßen Sinjars. Die zerstörte Stadt nördlich des Dschabal Sinjar im nördlichen Irak erinnert mit ihren zerbombten Wohnblöcken und Schutthaufen an die vorzeitliche Landschaft der jesidischen Legende, die Rashid aus dem Off erzählt. Nur ist der versehrte Schauplatz, dessen apokalyptische Aura Ruben De Ghesells düsterer Soundtrack verstärkt, nicht unberührt, sondern das Relikt kriegerischer Zerstörung. Jahre später am elliptischen Ende des filmischen Entwicklungspfads fährt Rashid wieder durch die Ruinen.
Die Implikationen jener zweiten Fahrt sind dann grundlegend andere. Der mentale und soziale Reifeprozess innerhalb dieser formalistischen Klammer ist bestimmt von den seismischen Nachwirkungen des Grauens, das Rashid und seine Gemeinde erlitten. Vor 11 Jahren überfiel ISIS nach dem Rückzug der kurdischen Peschmerga die Stadt und begann mit dem systematischen Mord, Entführungen und Gewalttaten gegen die Jesiden. Nach Schätzungen der UN forderte der Genozid mindestens 500 Menschenleben. Eines davon war das Rashids Großvaters, der am ersten Tag des Genozids erschossen wurde.
Rashids Familie wurde mit Hunderten anderen nach Syrien verschleppt und eingekerkert. Seine Cousins, Onkel und Eltern wurden umgebracht, seine kleine Schwester ist weiterhin vermisst. Während er davon berichtet, zeichnet er die Umrisse ihres einstigen Hauses, den Grundriss der Räume, in die sie eingesperrt waren. Gleich den Skizzen liefern seine Beschreibungen nur eine abstrakte Andeutung des Schreckens; eine vage Ahnung des Horrors, der ihn verfolgt. Die aufwühlende Schilderung vor der Regisseurin markiert einen der raren Momente, in denen Rashid sich öffnet.
Das Vertrauen des zu Beginn 15-jährigen Hauptcharakters zu Krajinovic scheint während der drei Jahre, die sie ihn filmische begleitet, nicht zu wachsen, sondern abzunehmen. Rashid wird verschwiegener, wendet sich von der Kamera ab. Die existenziellen Konflikte, in die ihn die wachsenden gesellschaftlichen Anforderungen und seine eigene instabile Situation stürzen, lassen sich nur vermuten. Die urbane Kulisse wird zum Sinnbild einer zerstörten Zukunft, in der die Geister der Toten allgegenwärtig sind: Topographie eines Traumas, das nicht überwunden werden kann – nicht an diesem Ort.
Das Trauma ist dem jugendlichen Protagonisten Jasna Krajinovics observativer Dokumentation psychisch und physisch eingeschrieben. Als ISIS die Familie verschleppte, hat seine Mutter seinen Namen tätowiert, berichtet Rashid. Sein Schicksal wirft ein exemplarisches Schlaglicht auf die tiefgreifenden Auswirkungen des jesidischen Genozids auf die Kindergeneration. In karger, kondensierter Form umreißt die Regisseurin seinen vergeblichen Versuch eines Neuanfangs. Die Kamera folgt dem Heranwachsenden ohne Fragen zu stellen oder Antworten zu finden. Der Ausweg ist zugleich eine Flucht: vor der Erinnerung und der filmischen Konfrontation.
- OT: Rashid, the Boy From Sinjar
- Director: Jasna Krajinovic
- Screenplay: Jasna Krajinovic
- Year: 2025
- Distribution | Production © Alter Ego Production