“The world you’re about to see no longer exists.” Mit diesem bitteren Fazit eröffnet Julia Loktev ihre alarmierende Chronik der gewaltsamen Auslöschung der letzten Reste einer freien Presse in Russland. Dorthin reist die Regisseurin und Video-Künstlerin zu Beginn ihrer in fünf Kapitel unterteilten Dokumentation, die sie Dezember 2021 zu filmen begann. Loktev ist in St. Petersburg geboren, aber aufgewachsen und eingebürgert in den USA. Über ihre Freundin und Co-Regisseurin Anna Nemzer erhielt sie Zugang zu dem kleinen Kreis entschlossener Journalistinnen im Mittelpunkt ihres umfassenden Zweiteilers.
Dessen zehrende Länge von über fünf Stunden dokumentierte detailliert die Zerschlagung der verbliebenen unabhängigen Medien und Verfolgung regimekritischer Presse. Dazu zählen Ksenia Mironova, Irina Dolinina, Elena Kostyuchenko, Aleysa Marokhovskaya, Sonya Groysman und Olga Churakova, deren Arbeitsalltag und privater Schikanen das Ausmaß der Repressionen greifbar machen. Sie werden abgehört, bedroht, ausspioniert, überwacht, denunziert und gerichtlich angeklagt. Der Ausgang der Schauprozesse ist von vornherein klar. Alle sind registriert als „ausländische Agenten“, von denen es vor Putins Großangriff der Pressefreiheit nur wenige gab. Nun wächst die Liste täglich.
Die professionellen, psychologischen und materiellen Auswirkungen des staatlichen Terrors werden beklemmend deutlich, auch wenn Loktevs Mittreiterinnen sie mit schwarzem Humor überspielen. Einmal vergleicht Ksenia die groteske Situation mit „Harry Potter“ umso passender, da eine rechts-reaktionäre Fanatikerin die Romane schrieb. Doch selbst ein bitteres Lachen bleibt dem Publikum, das die Guerilla-Doku bisher beim New York Film Festival, auf der Berlinale und bei Visions du Réel sehen konnte, im Hals stecken. Der letzte neutrale Fernsehsender TV Rain, wo Mironova arbeitet, muss die eigenen Beiträge als politische Propaganda betiteln.
Jede Sendung eröffnet ein staatlich verordneter Disclaimer, den Loktev in einer frühen Einstellung einblendet. Ob dies absichtliche Ironie ist oder ein pointierter Zufall, ist unklar. Die Masse des Materials – Nachrichtenausschnitte, TV-Show-Fragmenten, Interviews und zahlreiche Gruppendiskussionen und Lage-Besprechungen, mal mit Handkamera, mal mit Handy, mal nur als Ton aufgenommen – wirkt so chaotisch und holperig, als sei Loktevs Anliegen nicht vorrangig ein klar strukturierter Dokumentarfilm, sondern die filmischen Beweise für die politischen Verbrechen an die internationale Öffentlichkeit zu bringen. Doch die steigert nur die Authentizität und Dringlichkeit.
Es scheint niederschmetternd und absurd, dass selbst die repressive Lage zu Beginn Julia Loktevs mutiger Polit-Doku noch weniger schrecklich scheinen als die gegenwärtige Situation. Der russische Überfall der Ukraine, der sich wenige Wochen nach Loktevs Ankunft am Schauplatz ihres fesselnden Berichts ereignete, verschärft die bedrohliche Lage der Journalistinnen im Fokus nochmals massiv. Die notgedrungene Flucht markiert den totalitären Triumph über ein paar letzte Bruchstücke Demokratie. Obwohl das aktivistische Archiv strukturiert und gestrafft effektiver wäre, ist es zugleich essenzielles Zeitdokument und dringliche Warnung an andere Staaten.
- OT: My Undesirable Friends: Part I — Last Air in Moscow
- Director: Julia Loktev & Anna Nemzer
- Screenplay: Julia Loktev & Anna Nemzer
- Year: 2025
- Distribution | Production © Julia Loktev