Der letzte Schwarz-Weiß-Film des Meisterregisseurs schmerzlicher Melancholie ist bekannt als sein düsterster. Seinen Abschied vom poetischen Chiaroscuro, das die Empfindungen der Figuren auf subtile Weise unterstreicht oder kontrastiert, gestaltet Yasujiro Ozu zu einem Abstieg in das umfassendste Dunkel der Szenerie und Gefühle. Jeder Hoffnungsschimmer erweist sich als Irrlicht in der bitteren Studie einer zerbrochenen Familie. Deren Mitglieder sind Variationen von Figuren, die einem aus früheren Werken wie Late Spring und Early Summer vertraut sind und einem in späteren wie Equinox Flower und Late Autumn wieder begegnen. Junge Frauen, deren schlichte Zukunftserwartungen in harscher Ernüchterung enden, junge Männer, deren bescheidene Ambitionen an der tristen Realität zerschellen, eine alte Generation, die sich mit Einsamkeit und Vergeblichkeit abgefunden hat.
Vor diesem niederschmetternden Hintergrund entspringt der Lebensmut der Figuren einfühlsam beobachteten Augenblicken psychischer Intimität. Ein Wort bei einem Glas Sake, der gemeinsame Blick über den Titelschauplatz oder schlicht das Wissen um eine lange verborgene Wahrheit kann zwei distanzierte Figuren einander unvermittelt nahe bringen. Diese zärtlichen Momente sind lichte Inseln in einem Drama, das nicht nur Ozus düsterstes ist, sondern sein kältestes. Die Schneeflocken versinnbildlichen die erkaltenden Gefühle der Charaktere. Akiko (Ineko Arima) muss erkennen, dass sie ihrem Jugendfreund Kenji (Masami Taura) nichts bedeutet. Ihre jüngere Schwester Takako (Setsuko Hara) entflieht mit der kleinen Tochter der lieblosen Ehe mit einem Alkoholiker. Beider Mutter Kisako (Isuzu Yamada), die vor Jahrzehnten die Familie verließ, sinnt vergebens auf eine Versöhnung.
Verzweiflung und Frustration der in einem Muster aus Pflichterfüllung und moralischer Schuld erstarrten Familienmitglieder entladen sich in Abweisung und Selbstbestrafung. Zu einem gewissen Grad sind Ozus Figuren selbst Urheber ihres Unglücks. Sie verurteilen sich zu Gefangenschaft in unerfüllten Beziehungen, verbannen Menschen, bei denen sie Trost und Verständnis finden könnten, aus ihrem Dasein und beugen sich von eherner Traditionen gebotenen Zwängen. Letzte lenken das Schicksal der Schwestern in jene trostlose Bahn, der das ihrer Eltern folgt. Ironischerweise besiegelt ausgerechnet der moralgelenkte Entschluss, nicht dem sozialen Negativbild einer schlechten Mutter oder verantwortungslosen Tochter zu entsprechen, die Ausweglosigkeit. Die psychologisch und soziologisch gleichermaßen differenzierten Beobachtungen vereinen großes Schauspieldrama und Gesellschaftskritik zu einer sublimen Ode leisen Kummers.
Im Letzten seiner Schwarz-Weiß-Klassiker erforscht Yasujiro Ozu die übergreifenden Motive von Sehnsucht, Vergeben und Vergeblichkeit, die sich als roter Faden durch sein Werk winden. Die Einsamkeit, die das von seinen Stammschauspielern verkörperte Ensemble eint, ist bedrückend und dennoch ist das zurückhaltende Familiendrama von ungeheurer visueller und narrativer Schönheit. Mit jedem Film des Regisseurs erschließt sich dessen sozialer Kosmos besser. Die Wiederaufnahme von Themenkomplexen wird zur Kunstform, die bei jeder Begegnung reicher macht.
- OT: Tokyo Boshoku
- Regie: Yasujiro Ozu
- Drehbuch: Yasujiro Ozu, Kogo Noda
- Produktionsland: Japan
- Jahr: 1957
- Laufzeit: 140 min.
- Cast: Ineko Arima, Setsuko Hara, Isuzu Yamada, Chishu Ryu, Kamatari Fujiwara, Nobuo Nakamura, Haruko Sugimura, Masami Taura
- Beitragsbild © Berlinale