Neben Tchaikovsky’s Wife ist Marie Kreutzers unglückliche Heldin die zweite in distanzierter Ehe lebende Frau eines einflussreichen Gatten, deren durch die Erwartungen und Zwänge des 19. Jahrhunderts beschränktes Leben auf der Leinwand in tänzerischem Taumel aus der Realität endet. Doch gerade die dekorative Repräsentation ihres Ehemannes Franz-Josef (Florian Teichtmeister), die Ausrichtung ihrer Existenz nach den formellen Verpflichtungen ihrer gesellschaftlichen Position, die Kirill Serebrennikows Figur ersehnt, erstickt Vicky Krieps brillant verkörperte Kaiserin von Österreich-Ungarn.
Ihr 40. Geburtstag markiert offizielle den Abschluss eines Lebens, das sie mit der kühlen Distanz einer Zuschauerin nur noch von außen wahrnimmt. Diese Selbstentfremdung ist direkte Folge der fortwährenden Reduktion auf ihr Äußeres, dessen strengste Kritikerin sie ist. Für schön befunden zu werden, mehr noch, überhaupt gesehen zu werden, ist ihr unstillbares Bedürfnis und einzige Quelle der Freude – und Lust – geworden. Ihr eisernes Regime aus Sport, Diät, Selbstüberwachung und Einschnüren ist zugleich Körperkult und Selbstverletzung.
Anachronistische Gesten, Musik und Requisiten definieren die Protagonistin als moderne Person, gefangen in einem vergangenheitsverhafteten Staatssystem, das seine durch baufällige Kulissen veranschaulichte Redundanz nicht wahrhaben will, und verleihen dem weiblichen Aufbegehren gegen patriarchalische Regelwerke zeitlose Relevanz. Universeller Allegorik unterliegen auch die historischen Abweichungen. Mit ihnen unterstreicht die Regisseurin und Drehbuchautorin die psychologische Loslösung der echten Elisabeth von der populären Figur der Kaiserin Sisi. Letzte ist hier buchstäblich nur eine Rolle, die den Menschen überlagert hat.
Der Titel verweist auf das starre Korsett sittlicher und sozialer Vorgaben, in das sich die eigenwillige Hauptfigur nach Jahrzehnten klagloser Anpassung nicht mehr zwängen will, während sie sich unerbittlich in eigene Anforderungen schnürt. In grandiosen Szenenbildern, deren gemäldegleiche Anordnung Kostümfilm und modernes Bühnentheater nahtlos verschmelzen lassen, entfesselt Marie Kreutzer ein psychologisch und soziologisch gleichermaßen prägnantes Biopic. Dessen fiktionalisierte Version einer von Vicky Krieps exzellent dargestellten Kaiserin zieht seine Wahrhaftigkeit aus dem Bruch mit der Realität.
- OT: Corsage
- Director: Marie Kreutzer
- Screenplay: Marie Kreutzer
- Country: Austria, France, Luxembourg, Germany
- Year: 2022
- Running Time: 112 min.
- Cast: Colin Morgan, Vicky Krieps, Finnegan Oldfield, Tamás Lengyel, Alma Hasun, Raphael von Bargen, Aaron Friesz, Manuel Rubey, Katharina Lorenz, Jeanne Werner, Alexander Pschill, Florian Teichtmeister, Eva Spreitzhofer, Marlene Hauser, David Oberkogler, Ivana Urban
- Release date: 07.07.2022
- Image © Alamode