Absichtlich und akzentuiert, betont die Ungewissheit über Ort und Zeit Athina Rachel Tsangaris rebellischer Roman-Adaption die allegorische Natur des schwelgerischen Szenarios. Jenes verwurzeln Requisiten und Akzente vage im Norden Englands Anfang des 19. Jahrhunderts, als der Enclosure Act Gemeinde- und Gewohnheitsrechten der ärmeren Landbevölkerung rigoros beschnitt. Dort liegt der vom Kameraauge mit schwärmerischer Sinnlichkeit eingefangene Schauplatz. Die mystisch schöne Flora und Fauna erscheint als pastorales Paradies, aus dem die Figuren die Gier ihres gottgleichen Gutsherren vertreibt.
Die fundamentalen gesellschaftlichen, ökonomischen und letztlich auch ökologischen Umbrüche in Folge des Erlasses ist nur eines der verflochtenen Themen der hintergründigen Handlung. Durch die führt der Zugezogene Walter Thirsk (zuverlässig: Caleb Landry Jones), sowohl das Publikum als auch den Kartographen Phillip Earle, genannt Mr. Quill (Arinze Kene). Der fertigt im Auftrag des eingesessenen Gutsherren Charles Kent (Harry Melling) eine Landkarte. Diese ist sowohl verhängnisvolle Vorbotin eines industrialisierten Imperialismus als auch kunsthandwerkliche Sublimation der sozialen Strukturen.
Die Skepsis der Abwohnenden, die in der abstrakten Definition eine Entweihung sehen, bestätigt die Ankunft Kents Cousins Edmund (Frank Dillane). Als neuer Gutsherr plant er eine landwirtschaftliche Erschließung der malerischen Natur und des kommunalen Ackerlandes, Lebensgrundlage der Gemeinde. Anschuldigungen und Aberglaube säen Angst und Aggression, deren bittere Früchte Außenseiterfiguren ernten. Das motivisch und metaphorisch gleichsam vielschichtige Material webt die Regisseurin zu einem vor Figuren, Handlungssträngen und Themen überbordenden Quilt, dessen visueller und substanzieller Reichtum ungebrochen fasziniert.
Basierend auf Jim Craces gleichnamigem Roman entwirft Athina Rachel Tsangari eine berauschende Ballade über vielfachen Verlust. Freiheit, Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Naturverbundenheit zerstört eine frühindustrielle Profitorientierung, die mit sadistischer Systematik Kapitalismus und Klassenhierarchien implementiert. Gerahmt in kinematische Gemälde von organischer Plastizität und rauer Poesie, zeigt das symbolträchtige Szenario Antiintellektualismus und Fremdenhass als kalkulierte Konsequenz materialistischer Machtstrukturen und imperialistischer Instrumentalisierung. Die ausufernde Struktur und romaneske Üppigkeit machen das systemkritische Epos fordernd, aber mindern kaum dessen lyrische Kraft.
- OT: Harvest
- Director: Athina Rachel Tsangari
- Screenplay: Athina Rachel Tsangari
- Year: 2024
- Distribution | Production © Sixteen Films