“Es heißt, Bücher finden ihre Leser – aber manchmal brauchen sie jemanden, der ihnen den Weg weist”, sinniert die Off-Erzählerin zu Beginn The Chau Ngos Kinodebüt, das sich selbst anfühlt wie ein solcher Wegweiser oder prosaischer formuliert: Werbespot. Nicht für Bücher, sondern ein Buch, nämlich Carsten Sebastian Henns gleichnamiger Vorlage. Deren Erfolg ist schwer denkbar ohne die in der Widmung erwähnte Krise, selbst in der „Buchhändlerinnen und Buchhändler … uns mit einem ganz besonderen Lebensmittel versorgen“.
Die romantisierte Rückbesinnung auf gebundene Gesellschaft in Form von Büchern prägt die eskapistische Erzählung ebenso wie die schleichende Sehnsucht nach menschlichem Miteinander. Dessen letzter Lieferant – in doppeltem Sinn – ist der Titelcharakter, für den Christoph Maria Herbst seine Repertoirerolle des mürrischen Misanthropen abruft. Carl Kollhoff ist in der pittoresken Kulisse des stets sonnenbeschienen Schauplatzes bekleidet und (buch)beladen wie ein Wanderer. Sein schrulliger Spitzname verweist auf idealisierte Individualisierung seiner tagtäglichen Tätigkeit; im Grunde ein besserer Bring-Dienst.
Natürlich ist der eigentümliche Einzelgänger, den die kleine Halbwaise Schascha (Yuna Bennett) ungeachtet seines anfänglichen Widerwillens begleitet, kein unterbezahlter Amazon-Bote, mit dem der bildungsbürgerliche Kundschaft und die Kinozielgruppe nie abgeben würden, sondern gebildeter Gleichgestellter. Zum Beweis erhalten die handlungsrelevanten Charaktere, die Schascha und er besuchen, literarische Alias. Jene sind allesamt so plakativ und popkulturell, dass der selbstschmeichlerische Wiedererkennungseffekt garantiert ist. Mr. Darcy (Edin Hasanović), Effi Briest (Hanna Hilsdorf), Frau Langstrumpf (Maren Kroymann), Herkules (Tristan Seit).
Wie die einander helfen können und selbstverständlich werden, ist schon beim ersten Auftritt klar. Noch vorhersehbarere ist der positive Einfluss der mit „Heidi“ assoziierten Schascha, einem kindlichen Magic Pixie Dream Girl, auf den Protagonisten. Der ist obsolet laut seiner Vorgesetzte, die Ladenbesuche einem Lieferservice vorzieht. Dass dies nicht als die vorgeblich vermittelte gesellschaftliche Gemeinschaft gilt, zeigt die selektive Scheinheiligkeit dieses modernen Märchens über die inspirierende Wirkung alter weißer Männer, voll konservativen Kitsch und sentimentaler Stereotypen.
In der Tradition der TV-Märchen, die The Chau Ngo zuvor inszenierte, steht auch sein Kinodebüt. Dessen Figuren sind altbekannte Abziehbilder, deren aufgesetzte Assoziation mit Weltliteratur so selbstgerecht wirkt wie das Negieren der Randkonflikte des papierdünnen Plots. Der greift bei Themen wie Angststörungen und häuslicher Gewalt zu plumpen Deus ex machina Lösungen mit unangenehm elitärer Implikation. Handwerklich tadellos und von fähigen Darstellenden in adretter Kulisse präsentiert, bedient die kongeniale Kinoadaption perfekt das bourgeoise Bedürfnis nach reaktionären Realitätsfluchten.
- OT: Der Buchspazierer
- Director: The Chau Ngo
- Screenplay: Andi Rogenhagen, Carsten Sebastian Henn
- Year: 2024
- Distribution | Production © StudioCanal