Eine chronische Erkrankung hat sie den Job gekostet, ein gewalttätiger Ex-Partner ihre Wohnung. Ohne Adresse gab es keine Sozialhilfe, ohne Sozialhilfe keine Krankenkasse. Als ihr Ex sie aufspürte, floh sie Hals über Kopf in eine andere Stadt und fand sich dort ohne Geld auf der Straße wieder. Jetzt sitzt Mariem vor einer Fallhelferin und rasselt alle diese Fakten herunter, wahrscheinlich nicht zum ersten Mal. Die eigene Lebensgeschichte immer wieder erzählen zu müssen, ist Teil des bürokratischen Apparats, der verwundbare Menschen am gesellschaftlichen Rand zermürben soll.
Doch lange und genau genug, um das zu erkennen, schaut Regisseurin Eve Duchemin nicht hin. Ihr dokumentarisches Interesse gilt nicht der Unterschicht, sondern einer Frau aus der Mittelschicht, die – das betont nicht nur die Inszenierung immer wieder subtil – eigentlich nicht an den Schauplatz gehört. Dieser Schauplatz ist ein Obdachlosenheim für Frauen, in dem Mariem vorübergehend unterkommt. Dass sie dieser Welt fremd ist, verrät sich in jedem Detail ihres Auftretens. Mangelnde Distanz gegenüber Mitbewohnerinnen und eine zudringliche Neugier, die wenig mit aufrichtigem Interesse zu tun hat.
Das hat die vergleichsweise privilegierte Protagonistin vorrangig an ihrer Geschichte, die sie augenscheinlich gerne ein bisschen ausstellt. All das macht die Mitfünfzigerin zur idealen Hauptfigur der dokumentarischen Mischung aus Porträt und situativer Beobachtung. Mariem genießt sichtlich die Aufmerksamkeit der Regisseurin, die zwar unsichtbar bleibt, aber durch leise Fragen ständig präsent ist. Folglich spricht auch aus Mariems Auftreten ein fast schauspielerisches Bewusstsein für die Kamera. Die fokussiert sich auf Klischeeorte von Obdachlosigkeit: endlose Metro-Fahrten, Bahnhöfe und Parkbänke. Statt Authentizität dominiert die voyeuristische Melodramatik einer Reality Soap.
Einige relevante Beobachtungen macht Eve Duchemin in ihrer biografischen Reportage, doch diese scheinen zufällig und teils unbewusst. Etwa die Feststellung, dass der humanisierende Blick auf die Unterschicht nur den Menschen gilt, die sich nur kurzfristig unter sie mischen. Ein authentischer Eindruck der Herausforderungen, Ursachen und Perspektiven spezifisch weiblicher Obdachlosigkeit kann so nicht entstehen. Die vielfältigen Geschichten und Persönlichkeiten, denen die Protagonistin begegnet, dienen lediglich als Milieukolorit. Der Ausflug der Protagonistin in die Notunterkunft scheint fast wie ein Abenteuer. Die Realität sieht weniger lauschig aus.
- OT: Petit Rempart
- Director: Eve Duchemin
- Screenplay: Eve Duchemin
- Year: 2025
- Distribution | Production © Annabella Nezri