In Edinburgh des Jahres 1874 ticken die Uhren anders. Sie lassen den kältesten Tag aller Zeiten auf Jacks Geburtstag fallen oder Jacks Geburtstag auf den kältesten Tag aller Zeiten, auf einen Tag, an dem Vögel im Flug zu Schneebällen werden und Eiskugeln statt Tränen aus den Augen von Jacks werdender Mutter fließen. Sie schleppt sich zu dem abgelegensten Haus auf der äußersten Klippe. Dort lebt Madeleine, die eine kunstfertige Mechanikerin ist und außerdem Hebamme. Beide braucht der neugeborene Jack: durch die klirrenden Temperaturen wurde sein Herz ein Klumpen Eis. An dessen Stelle setzt Madeleine eine Kuckucksuhr, die durch die Liebe des jugendlichen Jack zur Straßensängerin Miss Acacia gefährlich aus dem Tackt gebracht wird.
„Berühre nie die Zeiger deiner Uhr! Halte dein Temperament unter Kontrolle! Und verliebe dich nie, niemals!“, warnt die fürsorgliche Madeleine, der Jack von seiner verlorenen Mutter überlassen wurde, ihren Ziehsohn. Doch in dem kunstvollen Kuriositätenkabinett, in das Mathias Malzieu und Nicoletta Ceccoli ihre Zuschauer führen, ist es schier unmöglich sich an die Mahnungen zu halten. Der französische Sänger schuf sein Regiedebüt nach dem Konzeptalbum La Mécanique du Cœur seiner Band Dionysos und seiner 2007 erschienenen gleichnamigen Erzählung, in der Jack sich hoffnungslos in eine „kleine Sängerin“ aus Andalusien verliebt. Ihre extreme Kurzsichtigkeit, die später auch keine Brille mehr korrigieren kann, schränkt Miss Acacia auf ihre Art emotional ebenso ein wie Jack sein Uhrwerkherz. Die allegorischen Handicaps der Hauptfiguren spiegeln einander und ergänzen sich auf tragische Weise. Während Jack seine Gefühle unterdrückt, weil er glaubt, dass sein Organismus ihnen nicht Stand halten kann, vermeidet Miss Acacia intensive Gefühle, weil sie glaubt, ihrer Wahrnehmung nicht trauen zu können. Was nach außen so reizvoll, wundersam und echt erscheint, enthüllt sich in den düster-grotesken Animationen oft entweder als schäbige Fassade oder unbeständige Illusion.
Auf Jacks Drängen hin schickt Madeleine ihn zur Schule, wo er neue Freunde und vor allem Miss Acacia gewinnen will. Stattdessen lernt er erst hier, im Revier des grausamen Schulhofdespoten Joe, dass mit dem Alleinsein nicht unbedingt die Einsamkeit endet. Ebenso schmerzlich ist das Ausgestoßen sein aus einer Gruppe, der man angehören möchte. Diese Erfahrung teilt Miss Acacia, die nach Südamerika flieht, nachdem ihre Eltern ohne Aufenthaltsgenehmigung verhaftet werden. Ähnlich des sensiblen Helden ist sie verwaist, aber zu willensstark, um zur pathetischen Mitleidsfigur zu werden. Sardonischer Schabernack und makabere Metaphern betonen in Songs und Szenen, dass Empfindungen zu verdrängen auf lange Sicht gefährlicher ist als sie auszuleben. Das lernt der gemeine Joe, als er Jacks Herz malträtiert und mit dem rechten Auge zum letzten Mal sieht, was die Stunde geschlagen hat. Auf der Flucht aus Edinburgh begegnet Jack einem blutrünstigen Namensvetter und einem von Bewegtbildern besessenen Bühnenmagier, der ihn um die halbe Welt zu einem heruntergekommenen Jahrmarkt begleitet. An jenem Ort der Schausteller und Freaks erfüllen sich für Miss Acacia und Jack beinah die Worte von Jacks Gefährten, der niemand anderes als Georges Melies ist. „Deine Andersartigkeit ist deine Stärke.“
Diese leicht abgedroschene Ermutigung zu Selbstrespekt gewinnt eine substanzielle Bedeutung in der von körperlich und seelisch versehrten Figuren bevölkerten Filmwelt. Deren schillernder Surrealismus ist das Werk der italienischen Künstlerin Nicoletta Ceccoli, deren Illustrationen voll subtiler Details auf der Leinwand zum Leben erwachen. Die Songs von Dionysos und die doppelbödigen Dialoge dämpfen dabei manche eindeutige Anspielungen der Buchvorlage auf illegale Abtreibung, sexuelle Praktiken und Mord gerade soweit wie nötig, um das morbide Musical-Movie für Kinder zugänglich zu machen. Zum Glück, denn es sind gerade die skurrilen und monströsen Elemente, die der zuckersüßen Tragödie ihre Besonderheit verleihen. Getreu Melies Worten: „Mach alles aus deiner Andersartigkeit.“
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