Die Anti-Globalisierungsbewegung sei so verzweigt, dass man sie nicht dramatisieren könnte, befindet Vicari auf der Pressekonferenz nach der Berlinale-Vorführung seines strittigen Gewaltexposés, welches sich selbst als Pamphlet gegen massive Polizeibrutalität und Folter versteht. Diese Aussage soll augenscheinlich rechtfertigen, dass er die Staatswillkür gegen die Teilnehmer_innen des Social Media Forums im Komplex der Diaz-Pascoli-Schule versteht, Demonstranten und Unbeteiligten während des G8-Gipfels 2001 in Genua werbewirksam ausbeutet.
Den Opfern zollt der Plot nicht einmal den Respekt, sie zu Charakteren auszubauen. Rund ein Dutzend etablierter Protagonisten haben etwa genauso viele Sätze zu sagen. Motive ihres politisches Engagement, Form und Ziele ihrer Bewegung und wer von ihnen dieser überhaupt angehört, bleiben unscharf. Individuen mit privaten Hintergründen existieren nicht im durch Dreadlocks, Tattoos und Grunge-Look gekennzeichneten Kollektiv ohne erkennbare Struktur und Ausrichtung. Der Fokus der Handlung liegt nicht auf den Menschen, sondern deren vorgeblicher Mitschuld. Marschiert bei Kundgebungen Polizei auf, rotten sich die vorwiegend jungen Protestbesucher zusammen. Wenn ein Dienstwagen vorbeifährt, werfen sie Flaschen.
Eine zersplittert in der Anfangsszene der reißerischen Gewaltorgie in Zeitlupe. Geworfen hat sie einer der Globalisierungskritiker, die aus dem Diaz-Komplex auf ein vorbeifahrendes Polizeiauto zu rennen und es blockieren. Der wiederholt gezeigte Flaschenwurf wird zum Schlüsselereignis und Angelpunkt, zu dem die Handlung zurückkehrt, um die Ereignisse von verschiedenen Seiten zu erzählen. Was zur perspektivischen Erweiterung dienen könnte, dient deren Beschränkung. Die politischen Mechanismen, amtliche Korruption und moralische Perversion, die einen faschistischen Akt der Brutalität koordinierten, forcierten und anschließend zu vertuschen versuchten, werden systematisch ausgeblendet.
„Wir haben uns entschlossen, den politischen Hintergrund nicht zu beachten“, kommentiert Vicari. Ein dramaturgisch, konzeptuell und moralisch gleichermaßen schwerwiegender Mangel. Zynischerweise spiegelt das gezielte Wegschauen der Inszenierung das der EU, die den Vorfall auf mehreren Ebenen weitgehend ignorierte. Der Plot ersetzt die erschütternde, skandalöse Realität eines organisierten militanten Übergriffs gegen friedliche Demonstranten, gedacht als Angriff und Abschreckungsmittel gegen eine politische Bewegung, durch das Konstrukt einer einzelnen, unvorhersehbaren Eskalation. Das gesichtslose Sondereinsatzkommando bricht wie ein Alptraum nachts herein. Statt als Teil des italienischen Polizeiapparats erscheinen die Aggressoren als mutwillig handelnde Einzeltäter – über 300 uniformierte Einzeltäter, na so ein Zufall.
Die anonymen Opfer haben nur ein Gesicht, damit reingeschlagen werden kann. Der blutige Höhepunkt des Spektakels mit rudimentärer Story ist ein geschmackloses Schwelgen in der Brutalität gegenüber widerstandslosen Unbewaffneten. Massive Gewalt und Folter werden als voyeuristische Schockeffekten zelebriert. Die Grausamkeiten dienen nicht der Abschreckung oder gar der Authentizität, an welcher Vicari offenkundig kaum interessiert ist, sondern der Unterhaltung. Sie sind ein kalkuliertes Actionelement, das zu fröhlichem Anfeuern der Täter herausfordert. Verständlich, dass die realen Betroffenen ablehnten, ihre Namen dafür herzugeben. Die Polizisten hingegen fühlten sich offenkundig so sicher, dass sie die Frage nach Verwendung ihrer Namen nicht weiter beachteten.
Schuldige auf Staatsseite benennen will hier jedoch keiner, unterstreicht Produzent Domenico Procacci: „Das würde nur zu Hysterie und absurder Polemik gegen die Polizei führen.“ Oh, die armen Polizisten, nur das nicht! Das einzige, was die Filmemachern bezüglich der Polizeigewalt bedauern, ist vermutlich, dass sie selbst nicht dabei sein konnten.
- Beitragsbild © Berlinale