Ein bisschen sieht es aus, als hätten alle bekommen, was sie wollen. Die Festival-Doppelspitze Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek bekamen Steven Spielberg, der den Preis für sein Lebenswerk pflichtschuldig persönlich entgegennahm und sich vom U2-Frontman mit Bono-Bombast als „Größten der Größten“ feiern ließ. Spielberg bekam seinen Ehrenbären, der ihm wahrscheinlich egal ist, aber dafür eine Gelegenheit, sich der Academy vorteilhaft zu präsentieren. Die Reaktionäre bekamen mehr deutsche Wettbewerbsfilme denn je, was für ein internationales A-List Festival ziemlich peinlich ist. Für die Berliner Bourgeoisie Schule gab es drei Filme und zwei Hauptpreise: Bestes Drehbuch für Schanelecs Musik und den Silbernen Bären für Petzolds Roter Himmel.
Die Klüngel-Clique und alle, die jedes Rütteln am Establishment als Niedergang der Kunst beklagen, bekamen einen zur Hälfte mit alten Bekannten besetzten Wettbewerb. Für die alten weißen straighten wohlverdienenden Männer gab es reichlich Präsenz und Preise, darunter den Goldenen Bären. Der ging an Nicolas Philiberts On the Adamant, einer der wenigen Dokumentarfilme, der wie zuletzt Touch me not und Fuocoammare – den Hauptpreis der Berlinale gewann. Für alle, die sich mehr Diversität und Repräsentation wünschen, gab es Kristen Stewart als Präsidentin einer mehrheitlich weiblichen Jury, die zumindest mit den Schauspielpreisen für Haupt- und Nebenrolle sowohl künstlerisch als auch politisch das richtige Signal setzte.
Sowohl die für die besten Hauptrolle in 20.000 Species of Bees honorierte Sofía Otero, mit acht Jahren jüngste Berlinale Preisträgerin überhaupt, als auch Thea Ehre, ausgezeichnet als beste Nebendarstellerin für Bis ans Ende der Nacht, spielen in Filmen mit trans Thematik. Ehre widmete ihren Bären denn auch der Trans-Community. Angesichts der Bedrohung, der trans Menschen besonders in de USA in ihren Grundrechten und Existenz ausgesetzt sind, ein ebenso wichtiges Zeichen wie der Festival-Fokus auf Iran und Ukraine. Trotzdem gab es nicht mehr, sondern lediglich besser platziertes Queeres Kino. Ähnlich abgespeist wurde das Genre-Kino mit vier Animationsfilmen abseits der Kinder-Sektion und vier horroraffinen Werken.
Nicht nur der Goldbären-Film scheint ein lauer Kompromisses. Filmauswahl und Preisvergabe der 73. Berlinale prägten Halbherzigkeit und Mittelmaß. Kaum Highlights, kaum Aufreger, wenig Stars, keine Skandale. Das Motte Die Fesseln sprengen klang da fast ironisch. Obwohl es kleine Veränderungen gibt (endlich Pflanzenmilch statt Nestlé-Kaffee) leidet die Berlinale weiterhin an ihren Traditionsmankos: zu viele Dauergäste, zu wenig Diversität, zu viele Filme, zu wenig programmatische Vielfalt, zu viel nationale Filmpräsenz, gestrige Genre-Hierarchien. Neben den ableistischen sind auch die klassistischen Hürden für das Publikum unverändert hoch. Der grandiose Neustart nach den peinlichen Pandemie-Ausgaben war ein zaghaftes Anfahren mit angezogener Handbremse. Ob es nächstes Jahr vorangeht?
Persönliche Preisvergabe:
Bester Film: Past Lives (sagen alle)
Beste Regie: Totem
Beste Hauptrolle: Thea Ehre
Beste Nebenrolle: Sofia Otero
Silberner Bär Herausragende Künstlerische Leistung: Liu Jian
Bester Erstlingsfilm: The Cage Looking for a Bird
Bester Dokumentarfilm: Sieben Winter in Teheran
Schlechtester Dokumentarfilm: Fantastic Machine
Visuell herausragendster Film: Shen Hai
Visuell unterirdischster Film: In water
„Get out of my competition!“-Award: The Plough
„Can I take you home?“-Award: das magische Kätzchen Daijin aus Suzume
Bärendienst: Sira
Equality-Rating (0 – 10): 5 (Frauenanteil Wettbewerb: 31,58 %)
Berlinale-Taschen Rating: 1 (übriggebliebene Bauchtaschen vom letzten Jahr – what?!)
Dümmstes Merchandise: Teile des Berlinale-Palast Kinovorhangs von 2022 (riecht wahrscheinlich nach Desinfektionsmittel). Stückpreis 159,90 €.
Das Festival in einem Filmzitat: „Berlin ist so kalt und grau. Hier kann man nicht glücklich sein.“