Anders als zahlreiche Biopics, die sich der Namen historischer Personen bedienen, aber dabei nur im Entferntesten mit deren Werdegang zu tun haben, gibt Stéphanie Di Giustos außergewöhnliche Lebens- und Liebesgeschichte äußerlich keinen Hinweis auf die realen Ereignisse ihres herausragenden Beitrags aus der Cannes Nebensektion Un Certain Regard. Hier präsentierte die französische Regisseurin vor sieben Jahren ihren The Dancer, mit dem ihr jüngstes Werk nicht nur die Handlungsära der 1870er Jahre teilt.
Die in der französischen Provinz angesiedelte Geschichte der jungen Rosalie (Nadia Tereszkiewicz), die ihr verwitweter Vater (Gustave Kervern) an den kriegsversehrten Kaffeehausbesitzer Abel (Benoît Magimel) verheiratet. Die Gebete der Protagonistin an die als Geistesschwester beschworene Volksheilige St. Wilgefortis, ihr Zukünftiger möge sie nicht zurückweisen, lassen erahnen, dass ähnliche Ehehandel in der Vergangenheit gescheitert sind. Doch Abels Schulden und eine hohe Mitgift sollen sicherstellen, dass der Bund des ungleich Paares hält.
Aus dem Nebeneinander der weltlichen Rosalie und des einzelgängerischen Abel wächst ein Miteinander, als sich die fragil wirkende Protagonistin entschließt, ihre ungewöhnlich ausgeprägte Körperbehaarung nicht länger zu verbergen. Ihr Bart und einnehmendes Wesen bringen Geld in die Café-Kasse und Leben in die Ortsgemeinschaft. Deren großkapitalistische Moralapostel verurteilen indes das uneindeutige Genderbild als Bedrohung. Der Konflikt von binär-sexistischer Doktrin und natürlichem Selbstausdruck schlägt thematische Brücken zu einer kaum minder bigotten Gegenwart.
Frei inspiriert vom Leben der berühmten Café-Betreiberin und „Bartfrau“ Clémentine Delait erzählt Stéphanie Di Giusto mit ebenso viel visuelle wie narrativer Zärtlichkeit vom Kampf einer jungen Frau um körperliche und berufliche Selbstbestimmung. Lyrische Landschaftsbilder betonen die Verbundenheit der einfühlsam gespielten Protagonistin mit der Natur. Deren Missdeutung und moralistische Instrumentalisierung als vermeintliche Legitimation christlich-konservativer Dogmen motivieren die romantizistische Leinwand-Novelle, deren zeitgemäße Botschaft einzig die Abhängigkeit der Heldin von männlicher Bestätigung schwächt.
- OT: Rosalie
- Director: Stéphanie Di Giusto
- Screenplay: Romain Compingt, Stéphanie Di Giusto, Alexandra Echkenazi
- Country: France
- Year: 2023
- Running Time: 116 min.
- Cast: Nadia Tereszkiewicz, Benoît Magimel, Benjamin Biolay, Guillaume Gouix, Gustave Kervern, Anna Biolay, Eugène Marcuse, Juliette Armanet, Serge Bozon, Peri Bourgogne, Lucas Englander, Aurélia Petit, Julien Drion, Laurent Dassault
- Image © Gaumont