Aus dem Dunkel der Ohnmacht kommt Jane Eyre (Mia Wasikowska) zu Bewusstsein. Aus dem Dunkel ikonenhafter Literaturwerke, deren Figuren so vertraut sind, das sie fast real scheinen, kommt die andere Jane Eyre – Cary Fukunagas kongeniale Verfilmung des 1847 erschienenen Klassikers von Charlotte Brontë. Es ist eine Leidensgeschichte (“a tale of woe”) , wie sie jede Gouvernante hat. Dies sagt der enigmatische Edward Rochester (Michael Fassbender) der jungen Gouvernante Jane nach ihrer Ankunft auf seinem düsteren Anwesen. Weitaus gespenstischer jedoch ist das Geheimnis, dass in Thornfield Hall und im Herzen seines Besitzers lauert; einem Herz, dessen Feuer auch die strenge Jane entflammt.
Driftet Mia Wasikowska, deren Spiel brillant Janes widerstrebende Emotionen einfängt, in der ersten Szene aus der Bewusstlosigkeit, erwacht sie gleichzeitig aus der geistigen Bewusstlosigkeit, in die sie ihr Verlangen stürzte. Die schmerzvollen Erinnerungen an ihre trostlose Kindheit und ihre halb träumerischen Visionen treten zurück, um einer ebenso werkgetreuen wie autarken Filmvision Raum zu geben. Das Erwachen der Hauptfigur bezeichnet deren gestärkte Unabhängigkeit, die sie sich aller äußeren Zwänge zum Trotz bewahrt. Diese Freiheit hebt sie von den übrigen Charakteren ab. Der Geistliche Rivers (Jamie Bell), der das seine Charakterkühle implizierende Wasser im Namen trägt, ist ein Gefangener seiner Frömmigkeit. Er vertritt das Extrem des Vergeistigten gegenüber Janes sprichwörtlicher Geistesgegenwart.
Die von psychologischem Symbolismus getränkte Düsterkeit der Gothic Novel spukt in dem atmosphärischen Filmroman durch die schummerigen Korridore von Thornfield Hall. Janes Abkehr von diesem Ort ist eine Flucht vor ihrer Leidenschaft, die sie nicht länger beherrschen kann. Während sie dem Aufbrausen der Natur und ihres eigenen Herzens ausgeliefert scheint, behauptet sie ihre Unabhängigkeit. In einer Epoche, in der Frauen als Sklavinnen ihrer Launen betrachtet werden, folgt Jane der Vernunft. Die Dominanz des Geistes über das Gefühl lässt auch der Nachname der Heldin erahnen. Phonetisch an “Air” erinnernd, evoziert er die den Intellekt bezeichnende Luft. Der Sturm ihrer Gefühle peitscht Jane ins Gesicht. Ein Vogelschwarm schreit ihre Trauer in seinen Rufen heraus. Sturm und Flug sind Janes Attribute, die sie in der rauen Landschaft umfangen. Aus den Naturkräften sprechen ihr Kampfgeist und ihre unbeugsame Selbstbehauptung. “I am no bird; and no net ensnares me“, entgegnet sie Rochester, der glaubt, sie in einen partnerschaftlichen Käfig sperren zu können, der das goldene Pendant zu dem Dachkammerkäfig ist, in dem er seine Ehefrau Bertha hält.
Janes archaischer Gegenpart ist die im Wahnsinn ihren Trieben ausgelieferte Bertha. Janes dunkles Spiegelbild überwacht sie in einer Szene kaum wahrnehmbar von einem Fenster aus. Eine gespenstische Chimäre aus Es und Über-Ich ist Bertha jene impulsgesteuerte, mahnende Instanz, die Jane vor Rochesters Doppelzüngigkeit warnt. Schwelende Verworfenheit und Wahn flammen schließlich zu einem Brand auf und verschlingen den Ort, der sie ausgebrütet hat.
Jane entkommt, weil sie ihre Selbstbestimmtheit als “freier Mensch mit eigenem freien Willen” selbst gegen den härtesten Angriff verteidigt: den ihres eigenen Begehrens. Die von Sally Hawkins mit gekonnter Niedertracht gespielte Mrs. Reed und Rochester sind erste und letzter in der langen Reihe von Autoritätspersonen, die Janes Charakterstärke verkennen. Die Überlegenheit ihrer Kontrahenten beruht auf sozialem Status, Besitz oder Geschlecht. Wie brüchig diese Dominanz ist, das bezeugen die verkohlten Ruinen von Thornfield Hall.
Die Feuersbrunst gewinnt in Fukunagas Adaption den reinigenden Charakter, der ihr auch im Roman innewohnt. Der infernalische Akt der Katharsis exorziert Rochesters Dämonen, seine physische Verwundung spiegelt die psychische Verletzung Janes in ihrer Kindheit wieder. Nach Rochesters materiellem Verlust und Janes Gewinn können sie sich sozial wie geistig als Ebenbürtige gegenübertreten, doch dieser Triumph der Liebe ist herb, fast bitter. Dass Jane Eyre ihm dennoch treu bleibt, bezeugt die Ernsthaftigkeit von Fukunagas Verfilmung, die gegenüber dem Roman ist, was Jane und Edward füreinander werden: Ebenbild und Gleiches.
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