Dass der siegreiche Spitzensportler im Mittelpunkt Boris Tilquins und Christophe Hermans‘ historischer Hommage noch am Leben ist, überrascht sicher diejenigen, die noch nie von ihm gehört haben. Letztes sind wohl nahezu alle der Zuschauenden, die das dokumentarische Langfilm-Debüt der Regisseure nicht als filmisches Pflichtprogramm eingeschworener Fans sehen. Außerhalb der Rentner-Radsport-Generation seiner belgischen Heimat kennt kaum jemand den Titelcharakter. Die belgisch-französische Original-Produktion nennt ihn bei seinem Nachnamen Merckx, der internationale Verleih hingegen jovial beim Vornamen Eddy.
Die 1945 im belgischen Meensel-Kiezegem geborene Radsport-Legende Eddy Merckx errang in den späten 60er und 70ern unzählige Bestleistungen. Fünf Gesamtsiege bei der Tour de France, fünf beim Giro d’Italia und einen bei der Vuelta a España, 525 Profisiege und einen prestigeträchtigen Stundenweltrekord. Aufgrund seines eisernen Siegeswillens „Der Kannibale“ genannt, machte er den Radsport international bekannt und prägte eine Ära. Diese ist indes längst nur noch verblasstes Archivmaterial. Dem geradezu sklavisch verpflichtet ist das hegemoniale Heldenepos.
Dessen in chronologischer Konventionalität erzählter Lebenslauf ist in doppeltem Sinn reine Montage: Zusammengesetzt aus Archivaufnahmen, ohne eine einzige neue Szene, zeitaktuelle Recherche oder frische Interviews. Entsprechend eindimensional ist das ebenso reduktive wie visuell elegante Mosaik, das jede menschliche Annäherung schuldig bleibt. Der konzeptionelle konsequente Verzicht auf zeitgenössisches Material ist symptomatisch für das dokumentarische Dilemma des mit stilistischer Sicherheit aus über 30 Nationen zusammengetragenen Bilderbogens. Der birgt reichlich Atmosphäre, Epochengefühl und Rennrausch, aber keinerlei psychologische Tiefe.
Biografische Brüche vermeidet Boris Tilquins und Christophe Hermans‘ pompöses Period-Piece ebenso wie jedwede neue Erkenntnis über den prägenden Protagonisten. Dessen Innenleben bleibt Spekulation, seine Stimme Echo alter TV-Mitschnitten. Jene vermeiden jede kritische Konfrontation selbst, wo sie sich aufdrängt. Merckx beiläufig erwähntes ADHS, dem seine Familie mit Gewalt begegnete, und der 1969er Dopingfall verdeckt nationaler Personenkult. Das makellos geschnitte Tableau, das sich dem Mythos verpflichtet fühlt, statt dem Menschen. Den darf niemand Inhalten – auch nicht die Kamera.
- OT: Merckx
- Director: Boris Tilquin, Christophe Hermans
- Year: 2025