Sterben sei wie fliegen. Die Floskel kommt von einem unsichtbaren Sprecher, während das Kameraauge Tokios Nachthimmel absucht. Es ist die Stimme des Junkies Oscar (Nathaniel Brown), der mit seiner jüngeren Schwester Linda (Paz De La Huerta) ein schäbiges Apartment teilt. Wovor Linda sich fürchte, fragt er, dass sie nicht in dem Flugzeug über ihnen sitzen wolle? „Dying, maybe. To enter the void“ Doch eine gigantische Leuchtreklame – eine von zahlreichen in der neon-süchtigen Szenerie – gebietet bereits ENTER. Die grelle Aufforderung gilt gleichsam dem Publikum von Gaspar Noés experimenteller Bilderflut. Der Filmemacher, der seit dem kontroversen Irreversible den Ruf eines Skandalregisseurs genießt, begibt sich auf eine surreale Geisterbahnfahrt in die Abgründe der Psyche seiner kaputten Charaktere. Bereits der Vorspann hypnotisiert mit Blitzlichtgewitter. Film als psychedelischer Trip.
Alles erinnert an die übermächtige Scheinrealität eines alten Rummelplatz-3D-Kinos. Hyperkonstruierte Episoden dienen einzig der Rechtfertigung möglichst provokanter und visuell irritierender Einstellungen. Darin fällt Oscar die groteske Funktion zu, Nebenakteur und Hauptfigur zugleich zu sein. Nach wenigen Minuten der fast dreistündigen Laufzeit durchreißt eine Kugel seine Brust. Nice, dass der profillose Typ abtritt? Tja, zu früh gefreut. Fortan kommentiert seine rastlose Seele das Geschehen, das er beobachten muss, aber nie beeinflussen kann. Wow, das ist genau die Position des Publikums! Vorschlaghammer-Allegorien und Anspielungen regieren den rauschhaften Tumult aus Tönen, Motiven und Farben. Immerhin besitzt die Story trotz des allseitigen sensorischen Overkills innere Struktur. Die Kamera adaptiert die Perspektive Oscars, der nur sichtbar wird, wenn er im Drogenrausch über seinem Körper zu schweben glaubt oder in Spiegel blickt.
Grund für seiner Seele Rastlosigkeit ist ein Pakt der in der Kindheit getrennten Geschwister, einander nie mehr zu verlassen. Doch die Zweisamkeit in der Millionenmetropole Tokio überschattet Oscars Sucht. Während Linda als Stripperin arbeitet, verdient ihr Bruder Geld mit Drogen. In jener Nacht wird Oscar von Kumpel Victor (Olly Alexander) zu einem Deal gerufen. Der Name des Treffpunkt-Clubs: The Void. Damit hat der Plot den Zenit in Punkto Tiefsinn erreicht. Von hier an geht es steil bergab, intellektuell, ästhetisch und für den Protagonisten, der eine Horrorreise zwischen Leben und Tod antritt. Sex, Schmerz und Selbstdarstellung beherrschen Noés hyperbolische Exzentrik. Mal grell flackernde, mal pechschwarze Sequenzen verschmelzen, fixiert auf das Spiralmotiv als Symbol der Unumkehrbarkeit und Unendlichkeit. Schrecken und Faszination des Unabänderlichen bleiben Noés Lieblingsthemen, wie sie der Titel seines Vorgängerfilms anspricht.
In seiner inszenatorischen Radikalität ist der subjektive Bilderstrudel kalkuliert (pseudo)kompromisslos. Extrem ist der Begriff, der am Besten das systematische Übermaß optischer Eindrücke beschreibt. Extrem sind die Darstellungen der soliden Akteure, extrem der zwischen Pathetik und Ekel mäandernde Plot, extrem die Megalomanie des Regisseurs, der mit aller macht provozieren will. Die Handlung mit ihren voyeuristischen Sexszenen, grenzwertigem Chauvinismus und exzessivem Aktionismus ins Alberne tendierende Handlung ist da irreversible irrelevant.
- OT: Enter The Void
- Regie: Gaspar Noé
- Drehbuch: Gaspar Noé, Lucile Hadžihalilović
- Produktionsland: Deutschland, Italien, Kanada, Frankreich
- Jahr: 2009
- Laufzeit: 161 min.
- Cast: Paz de la Huerta, Nathaniel Brown, Cyril Roy, Olly Alexander, Masato Tanno, Ed Spear, Emily Alyn Lind, Jesse Kuhn, Nobu Imai, Sakiko Fukuhara, Janice Béliveau-Sicotte, Sara Stockbridge, Stuart Miller, Emi Takeuchi, Rumiko Kimishima, Akira Kuzuki
- Kinostart: 26.08.2010
- Beitragsbild © Wild Bunch