„Control, power, and money are the three foundations of the state system“, sagt einer der Bewohner des Titelorts, dem Kristina Shtubert ihr ungewöhnliches Dokumentarfilm-Debüt widmet. The Sun City, Sonnenstadt oder, so der offizielle Name, Abode of Dawn ist eine religiöse Kommune in der sibirischen Taiga. Anfang der 90er gründete sie der ehemalige russische Fabrikarbeiter und selbsternannte spirituelle Lehrer Sergei Torop unter seinem neugewählten Alias Vissarion. Vissarions auf dem Alten Testament basierend Lehre zog im postsowjetischen Russland über 10.000 Anhänger an.
Gut ein Drittel dieser Menschen lebt in Abode of Dawn, wo Shtubert über einen Zeitraum von rund 10 Jahren filmte. In eigentümlichem Gegensatz zu diesem epischen Umfang stehen die schlichte Form und der prosaische Inhalt ihrer Langzeitstudie. Knappe Texte zu Anfang, Ende und vor vereinzelten einschneidenden Ereignissen vermitteln kaum das Nötigste über den Ort. Wie viele Menschen dort zu Beginn lebten, wie viele es jetzt sind, wie sich ihr Alltag gestaltet-nichts davon erschließt sich aus den beobachtenden Szenen und bruchstückhaften Gesprächen.
Manche davon wirken wie Interviews, wenn die Befragten direkt in die Kamera schauen. Andere, wie die Unterhaltung mit einer Deutschen, die anscheinend ein komfortables Leben für ihre karge Existenz als mehrfache Mutter und Hausfrau zurückgelassen hat, wie nachbarschaftlicher Small Talk. Wieder andere, wie der Besuch einer alten Anhängerin haben fast etwas von religiöser Belehrung. So fester Gaube scheint indes die Ausnahme. Viele leben offenbar nur hier als Aussteiger. Was die Menschen dort hinbrachte und hält, bleibt unklar.
Der Gleichmut gegenüber dem Tun der anderen leitet augenscheinlich auch Shtubert und sogar Vissarion. Die Regisseurin verrät keinerlei Interesse an den Vorgängen im Ort, seien diese harmlos oder alarmierend. Das Misstrauen der Anwohnenden ihr gegenüber ist indes spürbar. Die wenigen Gemeindemitglieder, die mit ihr überhaupt sprechen, sagen kaum etwas von Belang. Entweder wollte ihr niemand etwas verraten – oder Shtubert wollte es nicht wissen. Vereinzelte Andeutungen in den oberflächlichen Erzählungen klingen beunruhigend. Doch Shtubert ignoriert diese und andere Red Flags.
Dass sowas böse enden kann, zeigt sich am Beispiel Vissarions. Mit seinem milden Lächeln wirkt er wie ein Yoga-Lehrer in Dauermeditation und verkündet bei einem Zwei-Fragen-Interview, er wäre am liebsten unsichtbar. Das kriegt er dann fast. In einer Aktion, die internationale Schlagzeilen machte, wurde Vissarion 2020 wurde Vissarion mit zwei engen Vertrauten vom russischen Militär per Helikopter verschleppt und ohne Prozess inhaftiert. Handyvideos von Anwohnenden zeigen bruchstückhafte Szenen davon. Spätestens hier wirkt das dokumentarische Desinteresse bizarr bis befremdlich.
Mit ihrer unausgegorenen Mischung aus Observation und Interviews entwirft Kristina Shtubert ein undurchsichtiges Porträt des titelgebenden Sekten-Domizils. Weder entsteht ein konkreter Eindruck des Lebens dort, noch ein Konzept von Form, Praxis und Zielen der Glaubensrichtung. Die wenigen Protagonist*innen agieren seltsam misstrauisch vor der Kamera. In dieser unterdrückten Anspannung und dem Militär-Eingriff liegt eine gewisse voyeuristische Faszination. Dies macht den dokumentarischen Fail zum perfekten Film für Verschwörungstheoretiker. Wie ein Gläubiger sagt: „Control, power, and money (…) We don’t need that here. Why would we?”
- OT: Sonnenstadt
- Director: Kristina Shtubert
- Screenplay: Kristina Shtubert
- Year: 2025
- Distribution | Production © DFFB