Fast scheint es unvermeidlich, dass Sylvain George nach zwei Dokumentationen, beide von enormer Länge, erneut zu seinem menschlichen Studiensubjekt zurückkehrt. Der dritte – und angesichts der tragischen Entwicklungen wohl letzte – Teil seiner Doku-Trilogie Obscure Night erzählt weiter, was Wild Leaves (The Burning Ones, the Obstinate) 2017 begann und die Goodby here, Anywhere bis 2023 fortführte. Im Zentrum des dokumentarischen Langzeitprojekts steht der junge Marokkaner Malik, der mit seinen Freunden undokumentiert nach Europa einwandert und sich zwischen Belgien, Frankreich und Spanien durchschlägt.
Gleich den ersten beiden der Filme, die auf eine Gesamtlaufzeit von über zehn Stunden kommen, taucht der Regisseur seine Szenen in ein expressives Chiaroscuro. Die elegante Ästhetik steht in ostentaivem Kontrast zum harschen Alltag des jungen Protagonisten und seiner Gefährten. Malik, Hassan und Mehdi, die alle noch minderjährig sind, leben in Paris auf der Straße. Die Kamera folgt ihnen in entkernte Häuserblocks, wo gelegentlich campen, beobachtet angespannt ihre riskanten Klettertouren über Belüftungsschächte und hockt sich zu Treffpunkten vor touristischen Fotomotiven.
Deren konsumorientierte Kitsch-Phantasien werden zur zynischen Karikatur vor dem Hintergrund der prekären, beunruhigend gefährlichen Existenzen. In die kann Gewalt jederzeit einbrechen, sei es durch die Polizei oder Streitigkeiten untereinander. Der Umgang untereinander ist rau, verhärtet durch die Desillusionierung und Abstumpfung. Der einzige Farbtupfer in dieser monochromen Tristesse ist eine einleitende Rückblende. Unscharfe Handy-Clips zeigen Malik und seine Kameraden auf einem Boot bei der Überfahrt nach Europa. Die stilistische Diskrepanz betont den Gegensatz zwischen ihrer naiven Vorfreude und der bitteren Realität.
Trotz der erschlagenden Laufzeit erhascht das fast ein Jahrzehnt umfassende Projekt davon nur einen Bruchteil. Selbst der wirkt distanziert und poetisch abstrahiert. Die formale Reduktion betont die Monotonie dieses Daseins am topographischen, sozialen und urbanen Rand, aber sie ist auch Stilmittel. Der Verzicht auf Interviews, Kommentar sowie gesellschaftliche oder biografische Informationen stellt das individuelle Schicksal über den migrationspolitischen Aspekt. Diese Gewichtung verstärkt indes die Tendenz zur tragischen Stilisierung. Georges ist spürbar fasziniert von der realen Tragödie mit grausam gelegenem Ende.
Im letzten Kapitel seiner Obscure Night Trilogie kehrt Sylvain Georges zurück zu dem nunmehr fast erwachsenen Protagonisten, den er über neun Jahre seit seiner Zeit als kleiner Junge in Marokko begleitet. Diese Langzeitbeobachtung ist für sich genommen bereits spannend und die düstere Aura der großteils nachts aufgenommenen Szenen übt einen unbestreitbaren Reiz aus. Doch in diesem Ästhetisieren und lyrischen Überhöhen der perspektivlosen Lage der minderjährigen Charaktere liegt auch eine dramaturgische Ambivalenz. Die schwarz-weiße Leinwand-Welt wird zur buchstäblichen Grauzone zwischen Humanismus und Ausstellung.
- OT: Nuit obscure – “Ain’t I a Child?”
- Director: Sylvain George
- Screenplay: Sylvain George
- Year: 2025
- Distribution | Production © Alina Films | Noir Production