Das Publikum sei wie ein Hund, sagt Marina Abramovic: „Es riecht Angst und Schmerz. Es kann fühlen, wenn man nicht anwesend ist”. Die jugoslawische Performance-Provokateurin setzt diesem Gefühl sich selbst entgegen. Zentrum ihrer Retrospektive im MOMA von März bis Mai 2011 ist der 736 Stunden währende Akkordauftritt. Matthew Akers filmischer Rapport zentriert sich um diesen extremen Akt physischer und psychischer Selbstdarstellung und -aussetzung.
Nur Performance, reine Performance. Es geht bloß um Performance.
– Marina Abramovic
Vor Beginn spricht Abramovic über den Titel der Werkschau, den Akers auf sein konzentriertes Kinodebüt übertrug. Die Wortwahl ist Katalysator des Projekts, das sich Abramovic mit der ihr eigenen Kompromisslosigkeit aneignet. Die Künstlerin ist anwesend. Auf einem Stuhl an einem Tisch in einem Museumsraum. Drei Monate lang, siebeneinhalb Stunden täglich, ununterbrochen auf diesem Stuhl. In dessen Sitzfläche ist ein Urinal eingelassen. Details dem Museumskurator Klaus Biesenbach unangenehm sind, worüber Abramovic pragmatisch die Schultern zuckt: „Er will sich nicht mit der Realität auseinandersetzen.“ Von jener Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit lebt ihr Oevre voller Gratwanderungen zwischen künstlerischer Konfrontation und körperlichem Kampf, der bleibende Spuren hinterlässt.
Die packende Analyse einer Kunstform wird zum analytischen Versuch an der Künstlerin, deren Person untrennbar mit ihrem Schaffen verknüpft ist. „Performance dreht sich ganz um den Geisteszustand“, erklärt Abramovic, bevor sie reglose Projektionsfläche ihres Gegenübers wird. Die Reaktionen der 750.000 Besucher, die für eine Begegnung tagelang Schlange stehen, reichen von Ergriffenheit bis zur rohen Aggression, die sie intensiv während ihrer Performance Rhythm 0 erfuhrt. 37 Jahre später, mit 63 Jahren, wolle sie nicht mehr „alternativ“ sein die Wahl der Waffen auf zwei: Haltung und Blick. Normalerweise habe eine Performance einen Anfang, das Crescendo und das Ende, sagt sie. „Doch hier passiert gar nichts.“
Eine Frage der Perspektive. Während sie sich den Augen der Masse ausliefert, wird sie zugleich gezwungenermaßen Zeugin der Kapriolen diverser Besucher, vom spontanen Entblößen bis hin zum Verstreuen hetzerischer Pamphlete. Die kalkulierte Schockwirkung, die ihr oft vorgeworfen wurde, kulminiert in einer kategorischen Neutralität. Im Gegenzug dokumentiert das faszinierende Porträt dezidiert die Aktivität, welche die dargebotene Passivität erfordert. Die fühlbare Präsenz des Unvorhersehbaren zeigt ihre verstörende Kraft. Die „Großmutter der Performance“ bleibt ewiges Enfant terrible der zeitgenössischen Kunstszene. „Man weiß, das nichts passieren wird und alles passieren wird. Man schafft sich seine eigene Zone.“ Darin erlaubt die intime Skizze einen knappen, doch prägnanten Einblick.
- OT: Marina Abramovic – The Artist is present
- Regie: Matthew Akers
- Drehbuch: Matthew Akers
- Produktionsland: USA
- Jahr: 2012
- Laufzeit: 105 min.
- Kinostart: 29.12.2012
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